Kritische Edition

Editionen sind sinnvoll, um die im Archiv lagernden Quellen einer breiten wissenschaftlichen Forschung besser zugänglich zu machen. Die meisten Editionen liegen in Quellensammlungen vor.

Im Unterschied zur Transkription berücksichtigt die kritische Edition die gesamte Überlieferung eines Textes. Ziel der philologisch-kritischen Methode, die im 19. Jahrhundert entwickelt wurde, ist nicht nur eine Handschrift abzudrucken, sondern den ursprünglichen Text aus einem Vergleich der gesamten handschriftlichen Überlieferung zu rekonstruieren.

(...) verlorene Handschriften
A4 sekundäre Handschrift
A5 kontaminierte Handschrift

Handschriftenstammbaum (stemma).

1.  Alle Handschriften werden gesammelt und beschrieben.
2. Die Handschriften werden gelesen, transkribiert und kollationiert, d.h. miteinander verglichen. Dabei werden Abweichungen festgehalten (collatio).
3. Das Ziel des Vergleichs ist es, aufgrund der Abweichungen Abhängigkeiten festzustellen, um die Überlieferungsgeschichte zu rekonstruieren (recensio).
4. Die Verwandschaft der Handschriften lässt sich in einem Handschriftenstammbaum (stemma) graphisch darstellen.
5. Am Schluss wird der Text geprüft und korrigiert (examinatio und emendatio). Offensichtliche Fehler werden verbessert.

1 Textkritischer Apparat, 2 Sachanmerkungen

Aegidius Tschudi: Chronikon Helveticum, Quellen zur Schweizer Geschichte.

In der Einleitung werden die Editionsgrundsätze erläutert, die Überlieferungslage des Textes geschildert, die Handschriften beschrieben und Angaben zu Autor und Auftraggeber, Ausstellungs- bzw. Aufbewahrungsort gemacht.
Die Textwiedergabe ist in der Regel mit einem kritischen Apparat ausgestattet. Der Buchstabenindex dokumentiert die Textüberlieferung (Varianten bzw. Textschichten). Der Zahlenindex enthält einen Sachkommentar.
Editionen sind oft mit einem Stellen- und Namenregister erschlossen und manchmal auch mit einem Glossar (Wortregister) versehen, das wichtige Quellenbegriffe erläutert.

Die «Nibelungenklage» ist in vierzehn Handschriften in vier Fassungen überliefert, die sich nicht auf einen Archetyp reduzieren lassen (Edition von Joachim Bumke, 1996). Dieses Problem stellt sich bei vielen zunächst mündlich überlieferten «Texten».

Die philologisch-kritische Methode versucht aus allen überlieferten Textzeugen den originalen oder den ältesten Text (Archetyp) herzustellen. Dieses Verfahren ist jedoch problematisch, weil sehr oft kein Original (Autograph) mehr vorhanden ist oder weil Texte in sehr verschiedenen Varianten im Umlauf sind, ohne dass klar wäre, welcher Textzeuge Vorrang beanspruchen kann.
Bei manchen Texten entfaltet nicht das Original, sondern eine spätere Fassung die grösste Wirkung. Dann ist für viele Fragestellungen diese Version von grösserem Interesse als ein kaum beachtetes Original. Ausserdem enthalten gerade Interpolationen (eingeschobene und angehängte Textteile) oft wichtige Informationen zur Funktion der Texte.

Es ist deshalb nicht möglich, allgemein gültige Editionsgrundsätze festzulegen. Du wirst im Einzelfall entscheiden müssen, ob Du einer einzelnen Handschrift folgst (Leithandschriftenprinzip) und die Varianten nur im Apparat angibst, ob Du verschiedene Versionen synoptisch (vollständig nebeneinander) wiedergibst oder ob Du aus verschiedenen Textzeugen einen Originaltext rekonstruierst.
Wichtig ist, dass Du diese Entscheidungen in der Einleitung erläuterst, begründest und nachvollziehbar machst.

Otto schenkt dem Kloster Einsiedeln seinen Besitz bei Grabs, Januar 979.
MGH D0 II., Nr. 181.

1 Archetyp, 2 Chrismon, 3 Elongata, 4 Übernahmen aus Vorlagen, 5 im Vergleich zur Vorlage ausgefallene Worte, 6 Monogramma firmatum (d.h. mit unterscheidbarem Vollziehungsstrich), 7 Sigillium impressum
A Nummer der Urkunde, B Kopfregest, C Datum und Ort, D Handschriftliche Überlieferung, E Frühere Drucke, F Bemerkungen zur Quellenkritik, G Apparat mit textkritischen Anmerkungen.

Ein Grossteil der Königs- und Kaiserurkunden ist in der Reihe der Monumenta Germaniae Historica Diplomata (Abkürzung: MGH DD) ediert worden. Die Edition folgt einem bestimmten Schema:

  • Nummer der Urkunde
  • Kopfregest
  • Datum und Ort
  • Handschriftliche Überlieferung
  • Frühere Drucke
  • Bemerkungen zur Quellenkritik
  • Text mit kritischem Apparat

Sonderzeichen:

  • Archetyp (A)
  • älteste Handschrift (B) / zweitälteste Handschrift (C) usw.
  • Chrismon (C.)
  • Monogramma (M.) / Monogramma firmatum, d.h. mit unterscheidbarem Vollziehungsstrich (MF.)
  • Sigillium impressum (SI.) / Sigillium pendens (SP.) / Sigillium deperditum (SI.D.)
  • Signum recognitionis (SR.)
  • Elongata (Beginn und Ende durch drei aufeinander gestapelte "x" angezeigt)
  • Übernahmen aus Vorlagen (kleingedruckt)
  • Nichtberücksichtigung der Vorlage (Sternchen)
  • [...] vom Herausgeber ergänzt, im Original beschädigt usw.
  • <...> möglicherweise späterer Zusatz