Quellenkritik und Quellentypologien

Historiker und Historikerinnen schreiben Geschichte nach wissenschaftlichen Kriterien. Ihre Informationsgrundlage sind Quellen. Was aber ist das besondere an historischen Quellen? Wodurch werden Schriftstücke, Objekte und Bilder zu Quellen? 

Zur Charakterisierung und Qualifizierung von Quellen sind in der Geschichtswissenschaft verschiedene Typologien ausgearbeitet worden. Solche Ordnungsschemen bieten eine Hilfe zum analytischen Umgang mit Quellen. Die verwendete Begrifflichkeit und Systematik nimmt aber auch Einfluss auf die Auswertung und Interpretation der Quellen.

Dokumente werden erst durch die von der Wissenschaft erhobenen Fragestellung zur Quelle.

Was ist eigentlich eine Quelle? Eine der besten Definitionen für eine Quelle lautet:
«Als historische Quellen bezeichnen wir im weitesten Sinn alle Zeugnisse (Überlieferungen), die über geschichtliche (=vergangene) Abläufe, Zustände, Denk- und Verhaltensweisen informieren.» (Hans-Werner Goetz)
Die Definition lässt sich auch umkehren: Jede Überlieferung, die etwas über die Vergangenheit aussagt, ist eine mögliche Quelle.
Zur Quelle wird eine Überlieferung allerdings erst, wenn sie jemand als Quelle beobachtet, wenn jemand Fragen bezüglich der Vergangenheit an diesen Gegenstand richtet. Der Begriff bezeichnet nicht die Objekte an sich, sondern ihre Funktion für die Geschichtswissenschaft.
Die typologische Einteilung der Quellen geschieht also immer aus der Perspektive der Forschenden, auch wenn die ursprüngliche Bestimmung und Absicht der Quelle als Grundlage dient.

Metaphern wenden eine bekannte Denkstruktur auf ein erklärungsbedürftiges Phänomen an, um dieses begreifbar zu machen. Sie sind notwendig und nicht zu umgehen, aber auch gefährlich und verführerisch, denn sie verkürzen das zu erklärende Phänomen auf einen bestimmten Gesichtspunkt, und es besteht immer die Gefahr, diesen Gesichtspunkt mit dem Phänomen selbst zu verwechseln - also Opfer der Metapher zu werden:
Die historischen Quellen leuchten und sprudeln nicht, sie sprechen auch nicht zu uns – zumindest nicht von selbst. Sie legen auch nicht fest, was gesagt werden kann, sondern höchstens, was nicht behauptet werden kann. Reinhart Koselleck nennt dies das «Vetorecht» der Quellen.
Der Begriff der Quelle legt es nahe, sie für sich selbst sprechen zu lassen. Dabei wird die aktive Rolle der historisch Forschenden unterschätzt: Sie sind es, die die Fragen formulieren und im historischen Material nach Antworten suchen.
Du solltest die konstruktive Rolle der Historikerinnen und Historiker bei der Verwendung des Terminus «Quelle» immer im Hinterkopf behalten.

Traditioneller Weise werden die Quellen zwei Hauptgruppen zugeordnet, die als «Tradition» und «Überrest» bezeichnet werden. Als Traditionen gelten Quellen, die eigens und absichtlich zum Zwecke historischer Überlieferung geschaffen worden sind. Sie wiederum können in schriftliche und mündliche Traditionen aufgegliedert werden. Zu den Überresten zählt das Quellenmaterial, das von den Geschehnissen unmittelbar übrig geblieben ist. Dieses wird in drei Gruppen unterteilt: Sachüberreste, abstrakte und schriftliche Überreste.
Die Einteilung in «Tradition» und «Überrest» orientiert sich am Erkenntnis- oder Aussagewert einer Quelle. Massgebend ist dabei die Unterscheidung, ob der Quelle die Absicht der historischen Unterrichtung zugrunde liegt oder nicht. Ob eine Quelle etwas absichtlich oder unabsichtlich vermittelt, hängt aber von der Fragestellung ab. Es geht also letztlich darum, ob sich die Intention der Quelle mit derjenigen der Forschenden deckt oder nicht. Jede Quelle kann demnach sowohl «Tradition» wie auch «Überrest» sein. Bei der Zuordnung kommt es darauf an, die spezifischen Eigenschaften einer Quelle zu definieren.
Du solltest beachten, dass diese Einteilung einer reinen Faktengeschichtsschreibung verpflichtet ist.

Ein weiteres wichtiges Prinzip der typologischen Zuordnung beinhaltet die Unterscheidung zwischen schriftlichen Quellen und Sachquellen, so genannter Realien. Letztere werden auch nach Objekten und Bildern unterschieden. Diese Einteilung erfolgt ausschliesslich nach formalen Kriterien.
In der Geschichtswissenschaft dien(t)en die schriftlichen Quellen meistens zur Rekonstruktion von Ereignissen («Fakten»), die Sachquellen vorwiegend zu ihrer Illustration. Das muss nicht so sein. Die Wahl der Quellen hängt von der Fragestellung und der Quellenüberlieferung ab. Sachquellen spielen gerade für die Erforschung derjenigen Epochen eine wichtige Rolle, die nur wenige schriftliche Quellen aufweisen wie das Altertum und das frühe Mittelalter.
Für die Beschäftigung mit Objekten und Bildern haben sich spezialisierte Disziplinen entwickelt: Numismatik (Münzkunde), Heraldik (Wappenkunde), Sphragistik (Siegelkunde), Ikonographie (historische Bildinterpretation) und Archäologie. Sie helfen Dir bei der Auswertung von Sachquellen weiter.

Gerhard Theuerkauf ordnet die schriftlichen Quellen drei Gruppen zu. Die Zuordnung erfolgt nach der Ausrichtung der Quellen auf Normatives (was sein sollte), Fiktives (was sein könnte) und Faktisches (was ist). Auch bei dieser Einteilung steht die Akzentuierung der Inhalte einzelner Quellen im Vordergrund. Eine eindeutige Zuordnung ist nur bedingt möglich, da die Quellen verschiedene Elemente enthalten können.
Normative Quellen sind für die Wissenschaft in zweifacher Hinsicht von Interesse: für das, was sie aussagen und stützen, und für das, was sie verschweigen und bekämpfen. Fiktive Quellen sind erwartungsgemäss vorwiegend im Bereich der Dichtung zu finden. Aber auch andere Quellen lassen fiktive Züge erkennen. Ebenso weisen auf Faktisches ausgerichtete Quellen in der Regel fiktive und normative Züge auf.
Die Kritik am positivistischen Geschichtsverständnis des 19. Jahrhunderts hat deutlich gemacht, dass sich nicht nur die in einer Quelle enthaltenen Normen von den tatsächlichen Verhältnissen unterscheiden, sondern auch die Auswahl und Strukturierung von Fakten bereits eine Interpretation darstellt. Umgekehrt können anhand fiktiver Quellen Rückschlüsse auf historische Ereignisse gemacht werden.


Wirtschafts- und Verwaltungsquellen sind im Archiv am häufigsten anzutreffen. Im Klosterarchiv Einsiedeln wurden die ältesten Urbare und Hofrechte in einem eigenen Faszikel gesondert aufbewahrt.

Zu den häufigsten Quellen in den Archiven zählen Wirtschafts- und Verwaltungsquellen. Sie haben mit der Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung der Verwaltungstätigkeiten stark zugenommen. Dabei sind neue Formen von Quellen entstanden, die auch die archivischen Methoden beeinflusst haben.
Insbesondere neuere sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Ansätze haben ergänzende Kriterien zur Bildung von Schriftguttypen bestimmt. Diese Quellen halten nämlich nicht nur das wirtschaftliche Geschehen fest, sondern haben auch herrschaftliche, rechtliche und legitimierende Funktionen (Roger Sablonier).
Ausgangspunkt der Typologie bilden geistliche und weltliche Institutionen wie Klöster, Gerichte, Städte und Landesherrschaften, deren Verwaltung, Herrschaftsausübung und Konkurrenz den spezifischen Umgang mit Schrift prägte. Das Schriftgut wird nach seinen Eigenschaften und Funktionen verschiedenen Gruppen zugeordnet.

Heidelberger Sachsenspiegel aus dem 14. Jahrhundert, fol 1r: Das Lehnrecht.
Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 164.

Als Rechtsquellen bezeichnet man diejenigen Zeugnisse, die ihrer Entstehungsabsicht nach rechtlicher Natur sind (Hans Werner Goetz).

Einige wichtige Rechtsquellen sind: 

  • Volksrechte (Leges) des Frühmittelalters
  • Kapitularien der Karolinger
  • Sachsenspiegel und Schwabenspiegel (Rechtsbücher) im 13. Jahrhundert
  • Hofrechte, Dienstrechte, Stadtrechte, Statuten
  • Weistümer, Coutumes
  • Kirchenrechtssammlungen (z.B. Gratian)
  • Visitationsakten
  • Inquisitions- und Kanonisationsprotokolle
  • Gerichtsakten, Prozessprotokolle
  • Urkunden
  • Testamente
  • Reichstagsakten, Tagsatzungsakten u.a.

Da das Recht im Mittelalter kein klar ausdifferenzierter gesellschaftlicher Bereich ist, sind Abgrenzungen dieser Quellengruppe gegenüber anderen Quellen unscharf. Der Bezug zu den Rechtsnormen ist bei den oben genannten Quellen unterschiedlich. Nicht alle sind primär normativ.

Unter Aspekten, die für die Schriftlichkeitsdiskussion wichtig sind, ist ausserdem zwischen Entstehungsabsicht (making) und Gebrauch (using) zu differenzieren. Im Einzelfall ist nach dem spezifischen Bezug und Verhältnis der Quelle zum Recht zu fragen.


Münzen sind nicht nur Zahlungsmittel, sondern lassen auch Rückschlüsse auf herrschaftliche Strukturen zu. Darüber hinaus sind sie ein Mittel der Repräsentation und der Herrschaftslegitimierung.
Humbert II. von Viennois (1333-1349), Florin d'or, ohne Jahr.
MoneyMuseum (Sunflower Foundation).

Die Einteilungen der Quellen in Typologien haben entweder das Problem, dass sie nicht eindeutig zuordnen können oder dass sie relativ inhaltsleer sind. Eine Münze zum Beispiel ist eine Sachquelle, die aber auch beschriftet ist. Briefe verdanken zumeist dem Bedürfnis unmittelbarer Kommunikation ihre Entstehung, werden aber oft in Sammlungen aus literarischen, historiographischen Gründen überliefert. Eine eindeutige Typologie gibt es nicht.
Die Einteilung und Bewertung der Quellen ist immer in bezug auf die eigene, konkrete Fragestellung vorzunehmen. Die gängigen Quellentypologien können dabei behilflich sein, sollten aber nicht unreflektiert übernommen werden.
Neue Zugänge und Fragen an die Quellen haben sich vor allem aus der Schriftlichkeitsdiskussion ergeben.