Die Herausbildung der neuhochdeutschen Schriftsprache

Die Herausbildung unserer heutigen Schriftsprache fällt in die frühnhd. Zeit und ist besonders in den Drucken ab dem 16. Jahrhundert zu beobachten. Ab dieser Zeit haben wir es mit zwei unterschiedlichen sprachlichen Entwicklungslinien zu tun: mit einer Entwicklung, die hin zur Schriftsprache führt und mit der Weiterentwicklung der Dialekte. Das sprachliche Gefüge wird komplexer. Es gibt die vielfältigen mündlichen Dialekte und die zur Vereinheitlichung tendierenden Drucke, dazwischen liegen zahlreiche geschriebene Sprachvarietäten, die mehr oder weniger stark an der regionalen Mündlichkeit orientiert sind.

«Die Herausbildung der nhd. Schriftsprache wird als komplexer Prozess der Normierung und des Ausgleichs verstanden, an dem vielfältige sprachliche, historische und kulturelle Kräfte mitgewirkt haben, und der sich über den gesamten frnhd. Zeitraum erstreckt. Wesentliche fördernde Momente dieser Entwicklung sind die immer stärker ausgeweitete Verwendung der deutschen Sprache gegenüber dem Lateinischen in den verschiedensten Bereichen der schriftlichen Überlieferung, die Papierherstellung, die Erfindung des Buchdrucks, die wachsende Bedeutung der Städte und des Bürgertums sowie die humanistischen und reformatorischen Bewegungen» (Claudine Moulin-Fankhänel).

Textausschnitt aus Sebastian Brant, «Das Narren schyff» (Basel 1494):
Text mit alemannisch-oberdeutschen Kennzeichen:
Diphthonge: hieltt, Mued, fueß, zů
Monophthonge: by, tüfel, vff

Da wir erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts mit einer in orthographischer und grammatischer Hinsicht normierten Schriftsprache rechnen können, zeigen ältere Texte immer landschaftliche Kennzeichen. Was die deutsche Sprachlandschaft bis zur Herausbildung einer einheitlichen Schriftsprache charakterisiert, sind die vielen verschiedenen Schreibdialekte und Schreibsprachen. Texte sind auf verschiedenen Ebenen (Lautung, Schreibung, Wortschatz, Satzbau) landschaftlich geprägt; sie können so geographisch eingeordnet werden und sind dadurch grundsätzlich räumlich verankert.
Normierung bzw. Vereinheitlichung hat zur Folge, dass Varianten reduziert werden und sich eine Variante als Leitvariante herauskristallisiert: Im Deutschen beispielsweise wird statt oberdeutschem [ue] wie in zue die mitteldeutsche Variante [u:] wie in zu gewählt. Durch diesen Selektionsprozess wird die zweite Form zur standardsprachlichen Form, die erste zu einer dialektalen bzw. umgangssprachlichen Form.

Die Ausbreitung des Buchdruckes im 15. Jahrhundert.

Ein wichtiger Impuls im Standardisierungsprozess kommt dem Buchdruck zu, dessen genaue Rolle aber umstritten ist. Der Vorteil des Drucks besteht zunächst darin, dass mehr und schneller produziert werden kann. Durch die grössere Auflagenzahl werden schliesslich mehr Leser in einem geographisch breiteren Raum erreicht.
Das Hauptargument, das für den Buchdruck als treibende Kraft spricht, ist, dass die Drucker an einer Vereinheitlichung interessiert sind, um ihren Absatzmarkt auszubauen. Demnach hat ein geschäftliches Interesse den Ausgleichsprozess beeinflusst. Als Gegenargument wird eingebracht, dass die deutschen Texte keinen bedeutenden Anteil an der Gesamtproduktion haben, da die überwiegende Menge der Bücher bis 1681 noch in Latein gedruckt und der Grossteil der Bücher für den heimischen Markt bestimmt ist.
Grössere Druckorte sind nachweislich in einen überregionalen Markt integriert und die Drucker richten sich sprachlich nach dem Markt, den sie beliefern. Unterschiede im #lexikalischen (Lexik)# Bereich können durch Paarformeln (topf oder haven), seltener Glossare behoben werden.

Langfristig gesehen ist es das gedruckte Deutsch, das zur nhd. Schriftsprache hinführt und zur prestigereicheren Variante wird.

Als wenn christus spricht / Ex abundantia cordis os loquitur. Wenn ich den Eseln sol folgen / die werden mir die buchstaben furlegen / vnd also dolmetzschen / Auß dem vberflus des hertzen redet der mund. Sage mir / Ist das deutsch geredt? Welcher deutscher verstehet solchs? Was ist vberfluß des hertzen fur ein ding? Das kan kein deutscher sagen / [...] sondern also redet die můtter ym haus vnd der gemeine man / Wes das hertz vol ist / des gehet der mund vber / dz heist gut deutsch geredt.

Ein Beispiel für Luthers Übersetzertätigkeit (Sendbrief 16).

Die Reformation bedeutet für die Entwicklung der nhd. Schriftsprache einen weiteren entscheidenden Schub. Das Ziel der Reformation - eine Erneuerung der Kirchenverfassung - wird mittels Predigten und Flugschriften sowie handschriftlich oder mündlich verbreiteter Propagandaliteratur erreicht. Da die Adressaten lateinunkundige Laien sind, muss die Sprache einfach, verständlich, bildhaft und eben deutsch sein. Sprachlich zeichnen sich die politischen Flugschriften durch relativ wenige Regionalismen, eine Fülle von neuen Wortbildungen (märleinprediger) und die Verwendung von Modalwörtern (warlich, gewisslich) aus.
Parallel setzt eine Übersetzungsbewegung ein, in der Martin Luther mit seiner Bibelübersetzung einen speziellen Rang einnimmt. Die Wirkung von Luthers freierer und sinngemässer Übersetzung ist sehr weit reichend, da sie auch den Wortlaut der katholischen Bibel entscheidend prägt. Dennoch: «Seine ungeheure Wirkung im Religiösen hat zu einer Überschätzung seines Einflusses bei der Entstehung der nhd. Schriftsprache geführt» (Werner König). Luther steht in der Mitte von Entwicklungen und Traditionen, die er aufnimmt und weiterverarbeitet.

«Das /g/ so die zung das hinderst des guomens berürt / wie die Gens pfeysen /wenns einen anlauffen zuo beissen.»«Das /h/ ist ein scharpffer athem / wie man in die hende haucht.»«Das /m/ hat ain brummende stimm / wie die Küe / Bern / oder die Stummen / so man bede leftzen auff ainander truckt / vnd brummet.»

«Beim g berührt die Zunge den hintersten Teil des Gaumens, vergleichbar mit dem zischenden Pfeifen der Gänse, wenn sie anlaufen und beissen wollen.»
«Das h ist wie ein scharfer Atem, wie wenn man in die Hände haucht.»
«Das m ist wie eine brummende Stimme, wie die der Kühe, Bären oder der Stummen, wenn sie beide Lippen aufeinander pressen und brummen.»

Valentinus Ickelsamer (um 1500-1547), «Die rechte weis aufs kürtzist lesen zu lernen Ain Teütsche Grammatica» (1534)

Im Umkreis der Städte spielt die Beschäftigung mit der deutschen Sprache eine immer bedeutendere Rolle. Die städtischen und fürstlichen Wirtschafts- und Verwaltungsabläufe verlangen von den Angestellten Kenntnisse des Lesens und Schreibens in Deutsch: «lernen sin schuld vff schreiben vnd laesen» werden wichtige Kompetenzen (Wilhelm Schmidt).
Daran schliesst die Ausbreitung von privaten und städtischen Schulen neben den Lateinschulen an. Es entstehen Lehrmittel, die sich mit dem Erlernen bzw. der Anwendung des Deutschen befassen: zum einen Sprachlehrbücher, die zum Einüben der gesprochenen Sprache dienen und zum anderen Texte (wie so genannte Formularbücher), die sich mit der geschriebenen Sprache beschäftigen, Vorläufer der späteren Grammatiken. In diesen Texten finden sich erste Regeln sowie Bemerkungen zur Interpunktion und Orthographie. Ihre sprachgeschichtliche Bedeutung liegt in ihrem Wirkungskreis: Sie werden nicht nur in den Kanzleien, sondern auch im privaten Schriftverkehr sowie teilweise in Schulen verwendet.

Johann Christoph Adelung, «Umständliches Lehrgebäude der deutschen Sprache» (Leipzig 1782):
«Von der Declination, §178».

Die ersten vollständigen Grammatiken für das Deutsche entstehen im 16. Jahrhundert und sind in Latein abgefasst, so z.B. Albert Ölingers «Vnderricht der Hoch Teutschen Spraach» (Strassburg 1573). Er beschreibt für lateinkundige Ausländer den regionalen, oberdeutschen Sprachgebrauch. Im 17. Jahrhundert wächst der Wunsch nach einer einheitlichen Norm. Justus Georg Schottel weist in seiner Grammatik auf die künstliche Art der Hochsprache hin, die nun Hochdeutsch genannt wird: «Die Hochdteutsche Sprache ist kein Dialectus» (1648).
Eine weitere Generation von Grammatikern im 18. Jahrhundert (Johann Christoph Gottsched, Johann Christoph Adelung) hat normative Ansprüche, wie der Ausschnitt zeigt: Das Auslassen des -e in der Flexionsendung des Genitivs wird als normabweichend beschrieben. Das Hochdeutsche steht hier über den Dialekten. Wonach sich die Norm aber richten soll, bleibt oft unklar. Die Wirkung der Grammatiker auf das volkssprachliche Normbewusstsein ist noch nicht geklärt.

Das Buch Jesaja, Kapitel 5 aus der Lutherbibel «Das Newe Testament Teutsch D. Mart. Luth. Gedruckt zu Franckfurt am Main 1582» (links) und aus der Zürcher Bibel, gedruckt in Zürich von Christoffel Froschauer 1529 (rechts) (Ausschnitte, Stiftsbibliothek Einsiedeln).

Vergleich:
Luther (mitteldt.) - Zürcher Bibel (alemannisch):
meinem - minem
verzäunet - vmbzünt
bauwete - buwet
Trauben - truben
zu - zů

Auf dem Hintergrund des sprachlichen Ausgleichs in den anderen deutschsprachigen Regionen ist die frühnhd. Periode auch in der Schweiz eine Zeit der Vorbereitung und der allmählichen Ausbildung einer überregionalen Schreibsprache. Die Angleichung erfolgt v. a. durch die Schreibung der nhd. Diphthonge <ei, au,="" äu="">und später dann der nhd. Monophthonge <u, ü="">.
Diese Angleichung geht in der Schweiz je nach Region und Textsorte unterschiedlich vor sich. Die Nordschweiz (Basel, St. Gallen, Schaffhausen, Zürich) steht diesen Neuerungen am offensten gegenüber. In der Basler Druckersprache ist die Diphthongierung schon seit 1490 belegt. Die amtlichen Stellen in der Zentral- und Westschweiz (Luzern, Bern) halten demgegenüber noch bis ins 17. Jahrhundert an ihren «alten» Kanzleisprachen fest und Geistliche werden noch 1671 in Bern angehalten, sich «beim Predigen eines ungewöhnlichen neuen Deutsch zu enthalten» (Andreas Lötscher). Zuerst übernehmen die Bibeldrucke, v. a. die Zürcher Bibel, die sprachlichen Neuerungen.</u,></ei,>

«pro u vocali longâ profert au & pro i longo (quod nos duplicatum ij aliqui y scribut) enunciat ei: & pro diphthongo ei habet aliquando ai : pro ü bero eu» (37v).

«Anstelle des langen u (als Vokal) entwickelt sich au, und langes i (das wir doppelt ij, manche y schreiben) spricht man ei aus. Und für den Diphthong ei hat man manchmal ai, für ü hingegen eu.»

Conrad Gesner, «Mithridates. De differentiis linguarum tum veterum tum quae hodie apud diversas nationes in toto orbe terrarum in usu sunt.» (1555)

Entscheidend sind die Vorgänge im 17. Jahrhundert in der Schweiz. Vorläufer im Übergang zur nhd. Schriftsprache ist die Basler Druckersprache. Allgemein findet in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine deutliche Hinwendung zur oberdeutschen Schreibweise statt. Wichtig ist, dass in dieser Zeit - wie auch in den anderen südlichen Regionen Österreich und Bayern - die Orientierung hin auf die prestigereiche Literatursprache ostmittel- und norddeutscher Prägung beginnt.

Die Schweiz importiert die nhd. Schriftsprache jedoch nicht als «fertiges Ganzes» (Walter Haas), sondern wählt über drei Jahrhunderte verschiedene Varianten aus. Erleichtert wird die Übernahme durch konservative Züge der alemannischen Mundarten: Die Unterscheidung <i> und <ü> wurde schriftlich überall beibehalten, obwohl diese beiden Laute in vielen hochdeutschen Mundarten in /i/ zusammenfallen: Schissel, Hisle usw. Im hochalemannischen Raum hingegen entspricht die Schreibung den mundartlichen Gegebenheiten und lässt so Schreibsprache «nie zur wirklich fremden Sprache werden» (Walter Haas).


Titelblatt der Grammatik von Johann Christoph Gottsched: «Vollstaendigere und Neuerlaeuterte Deutsche Sprachkunst» (Leipzig 1762).

Bei der Ausformung der deutschen Schriftsprache können gesamthaft drei Phasen unterschieden werden:
1.) Die Phase der Grundlegung einer überregionalen Schriftsprache im 16. Jahrhundert
2.) Die Phase des Ausbaus (Mitte 16. bis Mitte 18. Jahrhundert)
3.) Die Phase der abschliessenden Bereinigung (Werner Besch).
Die jüngsten Forschungsergebnisse zeigen, dass die nhd. Schriftsprache mit keiner deutschen Teilmundart übereinstimmt. Es handelt sich um eine sogenannte Koine. Bereits vor dem 16. Jahrhundert sind Beeinflussungsrichtungen zu erkennen, etwa im östlichen Sprachraum vom Ostoberdeutschen in das Ostmitteldeutsche. Einschneidend ist auch der Übergang der niederdeutschen Gebiete zur hochdeutschen Schriftsprache im 17. Jahrhundert. Dadurch wird das Sprachgebiet um gut einen Drittel vergrössert. Das Hochalemannische und das Ripuarische stehen bis ins 16. Jahrhundert ausserhalb der Entwicklungen.
Die einzelnen sprachlichen Ebenen verhalten sich unterschiedlich, d.h. in manchen Bereichen findet die Vereinheitlichung früher, in anderen später statt. Auch die geographische Herkunft der dominierenden Varianten wechselt je nach sprachlichem Phänomen. Der Einigungsprozess verläuft aber vorerst nur auf der Ebene der Schriftlichkeit.