Besonderheiten der lateinischen Sprache im Mittelalter

Es gibt keinen bestimmten Sprachzustand der lateinischen Sprache, den man als mittelalterliches Latein (oder «Mittellatein») schlechthin bezeichnen könnte. Viele vermeintliche Besonderheiten lautlicher, morphologischer oder syntaktischer Art lassen sich schon im antiken oder spätantiken Latein fassen.

Bestimmte Bereiche des frühmittelalterlichen Lateins – zum Beispiel die Urkundensprache – sind immerhin reich an Abweichungen von den sprachlichen Normen des klassischen Lateins. Auch im gepflegten Latein der Karolingerzeit und des Hoch- und Spätmittelalters finden sich bestimmte Sprachzüge, die man als typisch mittelalterlich bezeichnen kann. In dieser Zeitspanne bilden sich zudem viele alternative Normen heraus, die selbst bei Schriftstellern mit hohen stilistischen Ansprüchen vorkommen.

Der mittelalterliche Sprachgebrauch ist jedoch in keinem einzelnen Fall vollständig an die Stelle der antiken Sprachnormen getreten. Vielmehr konnten sich verschiedene Alternativformen und -konstruktionen nebeneinander behaupten.

Einige Beispiele für die im Mittelalter vorkommenden orthographischen Varianten, die vor allem den Vokalbestand betreffen. Die in den modernen Wörterbüchern gebräuchliche Form ist in der zweiten Spalte angegeben.

Obwohl man in der karolingischen Bildungsreform erfolgreich versucht hatte, den antiken Sprachgebrauch und insbesondere die klassische Schreibung zurückzubringen, liessen sich im ganzen Mittelalter einige Schreibweisen nicht wieder zur antiken Norm zurückführen.

Kenntnis der häufigsten im Mittelalter vorkommenden Schreibvarianten erleichtert das Auffinden einzelner Wörter in Wörterbüchern erheblich. So werden die im antiken Latein vorhandenen Diphthonge ae und oe im ganzen Mittelalter fast durchgehend als ę (e caudata) oder e geschrieben. Das im Lateinischen nur in den aus dem Griechischen stammenden Lehnwörtern vorkommende y wird oft durch i ersetzt, aber auch umgekehrt wird i wird manchmal, besonders häufig in griechischen oder nur vermeintlich griechischen Wörtern, mit y wiedergegeben.

Der Hauchlaut h wurde im Mittelalter, wie zum Teil schon in der Antike, meistens nicht ausgesprochen. Daher erscheint das Weglassen oder die Setzung von h oft beinahe willkürlich. Als Besonderheit soll erwähnt werden, dass in zwei häufigen Wörtern, nihil (nichts) und mihi (mir; Dativ von ego: ich) h sehr oft als ch geschrieben wurde, also nichil und michi.

Einige Beispiele für die im Mittelalter vorkommenden orthographischen Varianten, die vor allem den Konsonantenbestand betreffen. Die in den modernen Wörterbüchern gebräuchliche Form ist in der zweiten Spalte angegeben.

Viele im Mittelalter verbreitete Schreibweisen lassen sich durch die Aussprache erklären, obwohl sie im ganzen Mittelalter je nach Region und jeweiligem Bildungsgrad der Sprechenden recht unterschiedliche Ausprägungen aufweisen konnten.

So wurden ti und ci vor einem Vokal oft (etwa) gleich ausgesprochen, was zur grossen Unsicherheit in der Schreibung führte. Sowohl ti für ci als auch umgekehrt kommt häufig vor. Im äussersten Fall konnte es geschehen, dass Wörter wie conditio (Schöpfung) und condicio (Bedingung) zum Teil gar nicht unterschieden wurden.

Aussprachebedingt ist auch die Austauschbarkeit von c und sund insbesondere von sc und ss vor e oder i. Der Buchstabe xkann für ss oder s stehen und umgekehrt. Auch ch für c und umgekehrt kommt nicht selten vor. Die Konsonantengruppe md wird manchmal als nd geschrieben, so z.B. quendam für quemdam (Akkusativ von quidam: ein gewisser). Die Gruppe mn wird oft zu mpn, so dass das Wort columna (Säule) in Handschriften häufig als columpna erscheint.

Einige Beispiele für die im Mittelalter vorkommenden orthographischen Varianten, die zu Verwechslungen führen können.

Im Allgemeinen stellen häufig vorkommende Schreibungen beim Lesen lateinischer Texte aus dem Mittelalter keine grosse Schwierigkeit dar. Eine Kumulation der von der Norm abweichenden Schreibvarianten kann jedoch auch zu Verwechslungen führen. So kann es vorkommen, dass ein excitare (sonst soviel wie: erheben, erregen) für haesitare (stocken, unentschlossen sein) zu stehen kommt. In diesem eher seltenen Beispiel können wir sowohl einen Schwund von h als auch die Schreibungen e für ae und xci für sibeobachten.

Im ganzen Mittelalter finden sich auch viele andere orthographische Besonderheiten. Einige sind in einer bestimmten Gegend oder einem bestimmten Zeitabschnitt besonders zahlreich zu finden, andere sind viel weniger spezifisch und kommen überall etwa gleich häufig vor.

Einige Beispiele für die im Mittelalter in der Deklination und Konjugation vorkommenden Formenvarianten.

Unter dem Einfluss der gesprochenen Sprache treten auch im mittelalterlichen Latein, vor allem in weniger "gepflegten" Texten, viele morphologische Sonderformen auf. Hier soll nur auf die am häufigsten auftretenden hingewiesen werden.

Zahlreiche Substantive der vierten Deklination (u-Deklination) gehen in die zweite (o-Deklination) über, z.B. exercitus (Heer) kann nun auch den Dativ exercito statt dem regulären exercitui bilden. Substantive der zweiten Deklination (o-Deklination) im Neutrum können in die erste Deklination (a-Deklination) wechseln, so z.B. folium, -ii, n. kann auch als folia, -ae, f. auftreten. Im Dativ und Ablativ Singular der dritten Deklination schwankt die Endung zwischen -e und -i. Bei Komparativformen wurde die Ablativform auf -i zur Regel (zum Beispiel a priori oder a fortiori).

Selbst in "gepflegten" Texten sind bei Verben der dritten (konsonantischen) Konjugation auf -ndere Perfektformen auf -didi (z.B. defendidit oder prendidit) durchaus gebräuchlich. Verbreitet sind auch Formen des Partizips Futur nach dem Präsensstamm, so zum Beispiel legiturus statt lecturus.

Einige Beispiele für die im Mittelalter vorkommenden indirekten Aussagesätze anstelle der in der klassischen Zeit bevorzugten AcI-Konstruktion.

Viele Züge der lateinischen Syntax im Mittelalter sind vereinzelt schon in der Spätantike als Alternativkonstruktionen zu finden. Andererseits werden die klassischen Normen im ganzen Mittelalter nie vollständig verdrängt.

Der Accusativus cum infinitivo ist im Mittelalter weiterhin in Gebrauch, doch sind auch die indirekten Aussagesätze mit quod oder quia allgemein üblich. Bei den Verben sind die strengen Regeln des Gebrauchs der Tempora zum Teil in Vergessenheit geraten. So ersetzt zum Beispiel der Indikativ Plusquamperfekt manchmal das einfache historische Perfekt als Erzähltempus. Formen des Konjunktiv Plusquamperfekt treten etwa in Finalsätzen mit ut oft an die Stelle des Konjunktiv Imperfekt. Zahlreiche intransitive Verben des klassischen Lateins werden im Mittelalter auch mit dem Akkusativ konstruiert, zahlreiche transitive Verben werden jedoch auch absolut gebraucht. Die Verba deponentia werden verstärkt in aktiven Konjugationsformen eingesetzt, umgekehrt werden manche aktive Verben gelegentlich neu als Deponentien behandelt.