Arbeiten mit Texteditionen

Lateinische Texte aus dem Mittelalter sind Zeugnisse mittelalterlicher Schriftlichkeit. Die für die damalige Zeit ebenfalls wichtige Mündlichkeit ist nur in Spuren fassbar, die sie in den schriftlichen Quellen hinterlassen hat. Im Mittelalter gab es verschiedene Verbreitungsmöglichkeiten für geschriebene Texte (Inschriften, Aufschriften, Münzen, Siegel usw.), die wichtigste Form waren jedoch die Handschriften (Codices, Urkunden, Rotuli u. ä.). Den Zugang zu diesen Zeugnissen ermöglichen uns historische Hilfswissenschaften (z. B. Epigraphik, Numismatik, Sphragistik usw. und - auf Handschriften bezogen - die Paläographie, Kodikologie und Diplomatik).

Überlieferte Texte können in kritischen Editionen wissenschaftlich aufgearbeitet und erschlossen werden. Solche Texteditionen sin für historische Fächer wichtige Arbeitsinstrumente.

Eine reichlich mit Glossen versehene Handschrift: Walther von Châtillon, Alexandreis, Zentralbibliothek Zürich, Ms. C 100, fol. 4v und 5r. (als Dauerleihgabe in der Stiftsbibliothek St. Gallen, vgl. auch e-codices - Virtuelle Handschriftenbibliothek der Schweiz).

Mittelalterliche Texte sind sehr selten als Autograph des Autors erhalten, und auch Urkunden liegen heute keinesfalls immer als Originale vor. Die Verbreitung eines Werkes im Mittelalter erfolgte durch das Abschreiben einer bereits vorhandenen Handschrift. Je mehr Handschriften eines Werkes angefertigt wurden, desto breiter konnte dessen Wirkung sein.

Im Unterschied zu einem seit der Einführung des Buchdrucks vorherrschenden Textbegriff, der auf der Vorstellung von einem festen, vom Autor fixierten und für die Leserschaft 'verbindlichen' Wortlaut beruht, variiert der Wortlaut eines Textes im Mittelalter – mal mehr, mal weniger – von Handschrift zu Handschrift. Diese Variationen mittelalterlicher Handschriften gehen oft auf Abschreibefehler zurück, oft aber auch auf bewusste Versuche, in den Text korrigierend, erklärend oder ergänzend einzugreifen. Die Eingriffe können auch unabhängig vom Abschreibevorgang erfolgen, so z. B. als spätere Korrekturen oder Glossen in einer Handschrift. Häufig flossen solche Korrekturen und Glossen beim nächsten Abschreiben tatsächlich in die neue Abschrift und somit in den Text ein.

Beispiel für ein Handschriftenstemma aus einer Publikation des 19. Jahrhunderts.

Ein mittelalterlicher Text kann in einer einzigen Handschrift vorliegen, die nicht das Autograph des Autors bzw. das Original der Urkunde sein muss; er kann in wenigen Handschriften vorhanden sein (schmale Überlieferung); oder er kann eine breite Überlieferung haben, die in manchen Fällen sogar hunderte von erhaltenen Handschriften umfassen kann. Ein Text hat manchmal vor allem eine lokale Verbreitung erfahren, andere Texte sind überall, wo im Mittelalter Latein geschrieben wurde, verstreut. Einige Texte haben ihre Wirkung in einem klar definierbaren Zeitraum entfaltet, andere wiederum wurden über Jahrhunderte hinweg immer wieder gelesen und abgeschrieben.

Dies alles ist nicht nur beim Erarbeiten der Textedition, sondern auch beim Arbeiten mit Editionen zu berücksichtigen. Die Verbreitung eines Textes und das Entstehen von Textvarianten wird seit dem 19. Jahrhundert anhand des anschaulichen Modells des Stemma einer Handschrift (sog. Handschriftenstammbaum) erklärt. Seit etwa 40 Jahren wird dieses Modell aber auch immer wieder in Frage gestellt, und zwar vor allem deshalb, weil in einem Stemma die Abhängigkeit der Handschriften voneinander hauptsächlich mit dem wenig differenzierten Muster des Abschreibens erklärt wird, das zu mehr oder weniger zufälligen Fehlern führt.

Die kleine Auswahl an den im Internet bereits vorhandenen Online-Editionen lateinischer Texte zeigt unterschiedliche Ansätze, auch den kritischen Apparat zu berücksichtigen.

Viele mittelalterliche Texte wurden bereits wissenschaftlich aufgearbeitet und liegen in älteren oder neueren Editionen vor. Um eine Textedition richtig benutzen zu können, ist es notwendig, die Grundlagen der Editionstechnik (auch Ekdotik genannt) zu kennen und zu verstehen. Bei einer sogenannt kritischen Edition geht es grundsätzlich darum, den Benutzerinnen und Benutzern einen mittelalterlichen (bzw. allgemein einen historischen) Text samt seiner Variantenvielfalt zu erschliessen. Dabei gilt es zahlreiche Entscheidungen zu treffen, welche Varianten in den Text und welche in den Apparat aufgenommen werden sollen. Wie die Schreiber der verschiedenen Überlieferungen greift also auch die moderne Editorin in den Text ein und entscheidet, in welcher Form sie ihn der Leserschaft präsentiert.

Seit den 1990er Jahren werden Editionen mittelalterlicher Texte immer häufiger auch im Internet publiziert. Hier gilt der Anspruch auf Transparenz der editorischen Entscheidungen und Eingriffe natürlich ebenfalls. Einheitliche und allgemein akzeptierte Kriterien für die Internetpräsentation einer Edition wurden freilich noch nicht festgelegt. Vergleiche die Beispiele in der rechten Spalte.

Frontispiz von Dupuys Edition (Paris 1655) der Prozessakten gegen Bonifaz VIII. Dupuy stand damals noch eine wichtige Handschrift des 14. Jahrhunderts zur Verfügung, die unterdessen als verloren gilt.

Die Arbeit des Editors und seine Entscheidungen müssen für Benutzerinnen und Benutzer des Textes transparent gemacht werden. Dazu wird in der Regel jede Edition mit einem Vorwort versehen, in dem unter anderem die Textüberlieferung dargelegt wird. Vor allem jedoch dient der sogenannte kritische Apparat der Transparenz. Darin wird die oft sehr komplexe Überlieferung eines Textes dokumentiert. Erst mit dem kritischen Apparat erhält man einen angemessenen Zugang zu einem mittelalterlichen Text.

Allerdings werden, aufgrund der je nach Zeit der Edition unterschiedlichen Methoden und Konventionen, nicht zwingend alle editorischen Eingriffe in den Text explizit dokumentiert. So findet man in älteren Editionen meist eine – oftmals stillschweigend – normalisierte Schreibung: Die in der Textüberlieferung bezeugte Schreibweise wurde der in den Wörterbüchern und Grammatiken üblichen Schreibung angeglichen. Desgleichen (und dies auch in neueren Editionen) wird die Interpunktion in der Regel vereinheitlicht und modernisiert, um eine leichtere Lesbarkeit des Textes zu gewährleisten.

Einige Zeilen aus Dupuys Edition der Prozessakten gegen Bonifaz VIII., Paris 1655, S. 330.

Texteditionen sind für Historikerinnen, Historiker und Forschende in anderen historisch orientierten Fächern wichtige Arbeitsinstrumente. Sie erschliessen bedeutende Quellen oft umfassender, als dies z. B. beim Zugriff auf eine einzige Handschrift der Fall wäre. Eine kritische Edition ermöglicht Einsicht in verschiedene Überlieferungs- und Zeitschichten eines mittelalterlichen Textes.

Die Varianten in einem Text sind oft Zeugnisse von verschiedenen Interpretationen, die einem Text im Laufe der Zeit widerfahren sind. Entgegen einer intuitiven und gängigen Vorstellung, die Texte seien von ihren Autoren in einem einwandfreien, inhaltlich und sprachlich konsistenten Zustand verfasst worden, der später von den Abschreibern 'verdorben' wurde, arbeitet die mittellateinische Philologie mit einem komplexen Textmodell, in dem man davon ausgeht, dass jede Textfassung ihre eigene Bedeutung und Wirkung gehabt haben kann. Die Rekonstruktion eines 'ursprünglichen' Textzustands ist nicht immer bzw. nur bedingt möglich. Sie ist zudem oft auch gar nicht sinnvoll.

Aus den Prozessakten gegen Bonifaz VIII. Der Text und der kritische Apparat sind nach der ersten modernen Edition von Jean Coste (Rom 1995, S. 275f) wiedergegeben worden. Die in der Edition verwendeten Handschriften sind nachmittelalterlich.

Die sogenannten Apparate sollen ermöglichen, den Text selbständig zu interpretieren oder bestehende Interpretationen in Frage zu stellen. Der wichtigste Teil davon ist der kritische Apparat (Variantenapparat), der die Varianten der Textüberlieferung dokumentiert. Im Variantenapparatwerden auch bestimmte editorische Eingriffe dokumentiert, so vor allem die Konjektur, also ein Wortlaut, der vom Editor an einer ihm sonst unverständlichen Stelle nur vermutet wird. Diese Konjekturen müssen immer mit den angemessenen Vorbehalten betrachtet werden. Ganz allgemein kann die Entscheidung des Editors, einen Wortlaut in den Text aufzunehmen oder in den Apparat zu stellen, in Frage gestellt werden.

Manchmal findet man unter dem edierten Text zusätzlich noch andere Apparate, so am häufigsten den sogenannten Similienapparat, der die im mittelalterlichen Text vorhandene Intertextualität (Zitate, Paraphrasen, Anspielungen) dokumentiert. Die den Text betreffenden Sachanmerkungen können in einem selbständigen Sachapparat verzeichnet sein.

Aus den Prozessakten gegen Bonifaz VIII., oben in der Edition von Dupuy (Paris 1655, S. 330), unten zum Vergleich in der ersten modernen Edition (Coste, Boniface VIII en procès, Rom 1995, S. 275f).

In der Praxis müssen nicht selten ältere Editionen von mittelalterlichen Texten und Urkunden benutzt werden. Manchmal sind alte Drucke (16.-18. Jahrhundert) bzw. Frühdrucke (15. Jahrhundert) wichtige oder gar einzige Zeugnisse für einen mittelalterlichen Text. Den Herausgebern standen damals zum Teil noch Handschriften und Dokumente zur Verfügung, die heute als verloren gelten.

Die editorischen Techniken haben sich in der Geschichte entwickelt und verändert. So findet man bei den älteren Editionen z. B. oft eine Normalisierung, die vor allem die Schreibung, aber auch die Wortformen oder sogar die Syntax betrifft. Insbesondere die Editionen aus dem 15.-16. Jahrhundert sind daher ganz anders zu handhaben als ihre modernen Pendants und verlangen nach einem besonders kritischen Umgang. Neuere Editionen normalisieren hingegen in der Regel nicht.