Rechnungen: Formen und Typen

Rechnungen und Rechnungsbücher verzeichnen mehr oder weniger detailliert Einnahmen und Ausgaben (Geld oder Naturalien) einer Institution, Gruppe oder Person und gehören quellentypologisch zum Geschäfts- und Verwaltungsschriftgut. Wie in anderen Bereichen setzt im 12./13. Jahrhundert auch im Rechnungswesen eine quantitative Vermehrung und qualitative Verbreiterung des Schriftgutes ein.

Für die verschiedensten geschichtswissenschaftlichen Fragestellungen bilden Rechnungen eine Quellengruppe mit hohem Aussagewert. Neben den Schwierigkeiten ihrer sprachlichen und sachlichen Erschliessung, ergeben sich vielfältige quellenkritische Probleme und Fragen, die bei deren Auswertung zu beachten sind.

Rechnungsbuch Sarmenstorff (1534–1537).
Klosterarchiv Einsiedeln, T.EB.3.

Rechnungen und Rechnungsbücher (Rationes, Libri della ragione, Livres de compte, Raitbücher; oft auch nach einem speziellen Inhalt benannt) enthalten mehr oder weniger detaillierte Aufzeichnungen zu Einnahmen und oft auch zu Ausgaben an Geld oder Naturalien einer Institution, Gruppe oder Person über einen gewissen Zeitraum.
Rechnungen werden in systematischen Quellentypologien den «Überresten» und innerhalb dieser Gruppe den Akten zugeordnet. Typisch für die meisten überlieferten Rechnungen ist ihr serieller Charakter. Serielle Quellen zeichnen sich durch die kontinuierliche Führung und die sich wiederholende Struktur der Einträge innerhalb der Quelle aus. Zudem werden diese immer wieder von Neuem angelegt und liegen deshalb heute teilweise in ganzen Serien von Rechnungsbüchern vor.
Während Abgabenregister, wie z.B. Urbare, Abgaben festhalten, auf die Anspruch erhoben wird (Soll-Zustand), erfassen Rechnungen und Rechnungsbücher die Einnahmen bzw. Ausgaben, die tatsächlich geleistet werden (Ist-Zustand). Zudem lassen sich Rechnungen und Rechnungsbücher von Schriftgut abgrenzen, bei dem das Beurkundungsinteresse im Vordergrund steht (z. B. Stadtbücher).

Rechnung der Romreise des Passauer Bischofs Wolfger von Erla 1204 in Reinschrift. Absatzgegliederte Textblockrechnung ohne buchmässige Gliederungsmittel.
Museo Nationale Archeologico in Cividale del Friuli, ohne Signatur, Bl. 8r.

Die ältesten überlieferten Rechnungen aus dem deutschsprachigen Raum sind auf lange Pergamentstreifen (Rotuli) geschrieben. Papier setzt sich als Beschreibstoff erst im 14. Jahrhundert durch (typisch als Papierhefte).
Formal lassen sich in zeitlicher Entwicklung drei Rechnungsformen unterscheiden:

die zeilenfüllende, absatzgegliederte Textblockrechnung ohne buchhaltungstechnische Gestaltung
die nach sachlichen Gesichtspunkten überschrifts- und summengegliederte Textblockrechnung
die seitenorientierte (mit Seitensummen), überschriftsgegliederte Einzelbuchungsrechnung mit separater Notierung der Beträge in Spalten neben dem Textblock.

Während spätmittelalterliche Rechnungen mit einfacher Schrift, ohne Verzierung versehen und oft in Schmalfolio gehalten sind, kommen in der frühen Neuzeit das Quartformat und zunehmend gebundene Rechnungsbücher auf.
Rechnungsbücher können chronologisch oder auf bestimmte Sachthemen (z.B. spezifische Einnahmen) und Partner (z.B. Kunden) bezogen geführt sein.
Rechnungen werden von Fürsten, weltlichen und geistlichen Herrschaften sowie kirchlichen Institutionen, Städten, städtischen Korporationen und im Bereich der kommerziellen Buchführung von Kaufleuten und Handwerkern angelegt.

Links Rechnen mit Ziffern, rechts Rechnen «auf der Linie» mit dem Abakus.
Adam Ries, Rechnung auf der Linien und Federn, Frankfurt 1544. (Ausschnitt)
Herzog August-Bibliothek, Wolfenbüttel, 16.7 Arithm. (2).

Rechnungen können zum einen im Bereich der kommerziellen, gewerblich-kaufmännischen Buchführung von bestimmten Personen oder Institutionen angelegt sein, um die finanzielle Lage selbst genau zu verfolgen. In Rechnungen und Rechnungsbüchern kann zum anderen auch Rechenschaft über die Verwaltung bestimmter Besitzungen abgelegt werden.
Die Rechnungslegung erfolgt in der Regel durch rechnungsführende lokale Amtsträger vor dem Eigentümer der Güter und Rechte oder dessen Stellvertreter und ist selbst im Spätmittelalter nur teilweise verschriftlicht. Bei der Rechnungslegung wird die Rechnung den beteiligten Personen vorgelesen und die einzelnen Beträge mittels Rechenmünzen oder Rechensteinen auf einem Rechenbrett (Abakus) dargestellt. Die Rechnungslegung dient zuerst als Kontroll- und Herrschaftsinstrument und wird erst später Verwaltungsroutine.
Die ursprüngliche Funktion der Rechnungslegung spiegelt sich denn auch in der Redewendung «jemanden zur Rechnung (oder Verantwortung) ziehen» wieder.

Beinhauspflägerrechnung 1638 bis 1643.
Klosterarchiv Einsiedeln, A.HQ.1.

Die Rechnungslegung wird im frühen und hohen Mittelalter zumeist mündlich verhandelt. Die korrekte Abwicklung der Geschäfte kann aber schriftlich bereits in Urkunden rechtsverbindlich festgelegt sein.
Seit dem 12./13. Jahrhundert setzt auch im Rechnungswesen mit der Herausbildung der Landesherrschaft, der Durchsetzung des Amtsgedankens und Konstituierung eines rechenschaftspflichtigen Funktionsträgers eine quantitative Vermehrung und qualitative Verbreiterung (Diversifizierung) von Schriftgut ein. Die einfache urkundliche Versicherung, alles ordnungsgemäss verrichtet zu haben, wird nun durch die Aufzeichnung einzelner Einnahmen und Ausgaben in Form von Rechnungen ergänzt. Urkunden behalten aber in diesem Zusammenhang wichtige Funktionen.
Hauptsächlich im 14. Jahrhundert bilden sich durch das umfangreichere Verwaltungshandeln spezifische Buchhaltungstechniken und damit Rechnungsformen aus. Es entstehen weitere Schriftguttypen: Rechnungen werden vollständig oder auszugsweise in besondere Rechnungsregister übertragen und deren systematischer Aufbau in Rechnungsordnungen festgeschrieben.
In einem entwickelten Rechnungswesen – wie bei den italienischen Kaufleuten des 15. Jahrhunderts – werden durch die Doppelte Buchführung mehrere Bücher nebeneinander geführt (z.B. Haupt-, Grund-, Kassen-, Lagerbuch usw.).

Rechnung auf einem losen Zettel, in einer Aktenmappe überliefert, die Abrechnungen von Reisekosten und Kuraufenthalten für das Jahr 1818 enthält.
Klosterarchiv Einsiedeln, A.BQ.10.

Urkunden und Abgabenregister wie Urbare haben normativen Charakter und werden deshalb aufbewahrt. Rechnungen jedoch verlieren nach vollzogener Rechnungslegung ihre Funktion im Geschäftsgang der Kanzleien und werden daher seltener überliefert. Für die Überlieferungslage ebenfalls von Bedeutung ist die Tatsache, dass die Amtsträger ihre Unterlagen nach Beendigung der Aufgabe oft in ihr Privatarchiv übernehmen.
Zu den ältesten überlieferten Rechnungen zählen die englischen pipe rolls, die ab 1155 lückenlos erhalten sind. Aus dem 12. Jahrhundert sind sonst fast nur lose Einzelabrechnungen überliefert. Im 13. Jahrhundert setzt vereinzelt die Überlieferung päpstlicher, städtischer, grundherrschaftlich-territorialer und gewerblich-kaufmännischer Rechnungen und Rechnungsbücher ein. Es dominieren Einzelrechnungen oder isolierte kleine Rechnungskomplexe. Regional dichter, im Ganzen aber zersplittert und kaum in grösseren Serien überliefert, sind Rechnungen aus dem 14. und 15. Jahrhundert erhalten. Die Überlieferungslage verbessert sich allgemein ab dem 16./17. Jahrhundert.
Ein Überblick über die erhaltenen Rechnungsbestände ist (noch) kaum möglich, da die Überlieferung sehr unübersichtlich und die Erschliessung des Materials lückenhaft ist.

In Aktenmappen finden sich häufig Einzelrechnungen.

Rechnungen und Rechnungsbücher gewähren einen Einblick in das Finanzaufkommen und die Ausgaben. Mit ihren Aufzeichnungen über Haushalt und Haushaltsführung bilden sie eine aussagekräftige Quellengruppe nicht nur für Verwaltungs-, Wirtschafts- und Handelsgeschichte, sondern ebenso für sozial- und alltagsgeschichtliche Untersuchungen.
Zur Rekonstruktion des spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Rechnungswesens können auch andere Quellen, wie Rechnungsregister, Quittungen, Rechnungsordnungen und Urkunden herangezogen werden.
Allgemein ist der Forschungsstand zum Rechnungswesen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit eher dürftig. Die Gründe dafür liegen in der schwierigen Überlieferungslage und dem geringen Grad der Aufarbeitung.
Rechnungen liegen häufig unverzeichnet in Konvoluten späteren Verwaltungsschriftgutes und müssen zuerst gesucht werden. Nur ein geringer Teil der Bestände ist ediert. Zudem stellen sich neben den Schwierigkeiten ihrer sprachlichen und sachlichen Erschliessung auch quellenkritische Probleme und Fragen.


Rechnung
der Baadsfard ins Walliß
so vill mich kan errinneren
lb ß x
Einnam von Ihro Hochfürstliche Gnaden ist 198 lb
Ausgaab
Zu Brunnen Trinckgeldt
Schifflohn sambt Trinckgeld
etc.

6
6-10--

Klosterarchiv Einsiedeln, A.BQ.10.

Bei der Auswertung von Rechnungen und Rechnungsbüchern ist es wichtig, die Grundsätze zu kennen, nach denen sie angelegt und die betreffenden Finanzen organisiert sind.
Die Aufzeichnungen spiegeln meist nicht den Gesamthaushalt einer Institution, Gruppe oder Person, sondern nur den Teil der Mittel, für den der jeweilige Rechnungsleger verantwortlich ist. In Rechnungen findet sich nur das, was Erträge erbringt oder für das der jeweilige Amtsträger aufkommen muss. Allfällige Informationslücken lassen sich oft nur in Kombination mit anderen Quellen (z. B. Inventaren, Urbaren) schliessen.
Da Rechnungen häufig zur Kontrolle vorgelegt werden, sind Manipulation, Unterschlagung und Betrug mindestens als Möglichkeit zu erwägen. Pauschale Zusammenfassungen von Einzelposten, unterschlagene Einnahmequellen, vorgetäuschte Preise und Löhne sind nicht bloss moderne Geschäftspraktiken.
Schliesslich öffnen Rechnungen nicht zuletzt aufgrund der zersplitterten Überlieferungssituation auch zeitlich ein zumeist enges Fenster auf einen begrenzten Bereich der Haushaltsführung.