Geschichtsschreibung

In der mittelalterlichen Definition ist Geschichtsschreibung die wahre Erzählung von (vergangenen) Ereignissen und Taten. «Historia» sind damit die als wahr erachtete Geschichte der Bibel, ebenso wie die Ereignisse, die zur Entstehung und Entwicklung von Kloster, adligem Haus, Stadt oder Land führen.
Ihre grosse Formenvielfalt teilt die Geschichtsschreibung mit der ganzen mittelalterlichen Literatur. Die «wahre» Geschichte kann in gebundener und gereimter Form oder in Prosa, als Aneinanderreihung einfacher Aussagen, oder als komplexer, den Regeln der Rhetorik folgender Text erzählt werden.
Die in der Forschung verwendeten Bezeichnungen für Geschichtswerke lehnen sich an die Institutionen der Entstehung an («Stadt-», «Kloster-», «Fürstenchronik»), beschreiben den vorherrschenden Inhalt («Weltchronik»), weisen auf den zeitlichen Rahmen hin («Vergangenheitsgeschichtsschreibung», «Gegenwartschronik») oder basieren auf formalen Gegebenheiten («Reimchronik», «Annalen»). Die typologische Einteilung erfolgt aus der Perspektive des Forschenden.

Diebold Schilling überreicht dem Rat von Luzern seine Chronik.
Die Schweizer Bilderchronik des Luzerners Diebold Schilling, 1513.
Korporation Luzern, Original-Ektachrom.

Die Geschichtsschreiber sind in der Regel Kleriker. Sie schreiben zunächst in Latein, der Sprache der Gebildeten. Erst im Lauf des 13. Jahrhunderts in England, Frankreich und Italien, ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum wird Geschichte auch in der jeweiligen Volkssprache erzählt. Dies spiegelt die Ausbreitung der Literalität auch auf Laienkreise des Adels und des städtischen Bürgertums.
Die Geschichte der Klöster wird von Mönchen und Nonnen verfasst, diejenige der Städte zunächst häufig von Angehörigen der eng mit dem Bürgertum verbundenen Bettelorden, dann typischerweise vom Stadtschreiber oder anderen Beamten sowie den Mitgliedern des städtischen Rats. Die französischen Könige stellen schon früh Hofhistoriker an. Formelle Aufträge zur Herstellung eines Geschichtswerks gehen seit dem 15. Jahrhundert in deutschen Städten auch vom Rat aus. Es besteht eine Wechselbeziehung zwischen möglichen Auftraggebern und Geschichtsschreibern: In vielen Fällen bietet sich der Chronist mit Schriftproben als Autor künftiger Werke an oder widmet sein Werk der Obrigkeit – mit der Hoffnung auf einen angemessenen Lohn.

Notizen von Aegidius Tschudi in Urkundenregesten für seine Arbeit am «Chronicon Helveticum». Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. Sang. 1083, S. 33.

Die Geschichtsschreiber geben ihre Quellen, aus denen sie häufig ganze Textpassagen kopieren, selten an. Autoritäten wie die Bibel oder antike oder zeitgenössische Autoren garantieren die Wahrheit des Erzählten. Beweiskräftig ist auch, was der Autor oder eine Gewährsperson «gehört und gesehen» hat. Ebenso enthalten Urkunden nicht nur Informationen, welche in die Geschichtswerke aufgenommen werden können, sondern beweisen gleichzeitig die Aussage.
Die Geschichtsschreiber sind aber weder «kritiklos» noch «naiv», wie die ältere Forschung behauptet, die ihr Objekt an den Ansprüchen der «kritischen» Schule der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts misst. Die «Kompilation» als «wissenschaftliche» Methode lässt sich nur dann begreifen, wenn man die Vorstellung, dass Autoritäten die Wahrheit garantieren, ernst nimmt. Widersprüche versuchen die mittelalterlichen Historiker durch das Abwägen des Autoritätsgehalts, der Gegenüberstellung verschiedener Positionen und schliesslich mit Hilfe der in den Hochschulen gelehrten logischen Methoden aufzulösen.
Seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts vermehren die Forschungen der Humanisten die zur Verfügung stehenden Quellen. Buchdruck und Verkehrsverbindungen ermöglichen die schnelle und simultane Verbreitung der neuen Erkenntnisse. Eine auf inhaltlichen Vergleich und Philologie abstützende kritische Geschichtswissenschaft entwickelt sich.

«Von dem iungsten gericht unnd ende der werlt».
Schedelsche Weltchronik, 1493. (Blatt CCLXII)

Das mittelalterliche Geschichtsbild ist teleologisch, d.h. auf die Erfüllung eines (vorgegebenen) Ziels ausgerichtet. In Weltchroniken, welche die Geschichte seit der Schöpfung aufrollen, ist dieses Ziel die Wiederkehr Christi. Aber selbst Werke, die ein Ereignis schildern, tun dies immer mit Blick auf das zum Zeitpunkt der Abfassung sichtbare Ergebnis.
Damit ist die Geschichte zugleich rückwärtsgewandt (retrospektiv) wie zukunftsgerichtet (prospektiv), dient doch die Erzählung der Erklärung der Gegenwart und der Voraussicht auf die Zukunft.
Im Laufe des 15. Jahrhunderts verschiebt sich der Schwerpunkt von den Weltchroniken auf die Geschichte von Institutionen. Mit der humanistischen Geschichtsschreibung tritt eine starke Säkularisierung der Geschichte ein, in der Heilsgeschichte allmählich von der Nationalgeschichte abgelöst wird.

Der Chronist Diebold Schilling empfängt den Berner Rat bei seiner Arbeit.
Diebold Schillings Spiezer Bilderchronik, 1484/85.
Burgerbibliothek, Mss.h.h. I 16, S. 41.

Die Geschichtsschreiber wenden sich an ein klar umschriebenes Publikum, auf das sie Inhalt, Sprache, rhetorische Form und Ausstattung des Werks ausrichten. Der Dekan des Klosters Einsiedeln, Albrecht von Bonstetten (ca. 1443–1509), verfasst einige seiner Schriften sowohl in Deutsch wie Latein. Seine lateinische Beschreibung der Burgunderkriege richtet sich an ein internationales Publikum, unter anderem an die Herzoge von Lothringen und Mailand. Die deutsche Version, in der auch die Anspielungen an beispielhafte antike Geschichten stark zurücktreten, wendet sich dagegen an die Regierungen der eidgenössischen Orte und ihre Verbündeten.
In den Prologen legen die Chronisten ihrer Absichten dar: Die wahre Geschichte soll, ganz im Sinne des ciceronischen «Historia magistra vitae», der Lehre dienen, sowohl im philosophischen Sinn zur Erkenntnis des Walten Gottes wie auch im praktischen, tagespolitischen Sinn zur künftigen Vermeidung von Fehlern oder zur Nachahmung erfolgreicher Strategien. Daneben soll sie aber auch unterhalten und, vermehrt gegen Ende des 15. Jahrhunderts, das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Stadt und auf dem Land – der «Patria» – stärken.
Zu diesen explizit geäusserten Intentionen kommen implizite hinzu: Chronisten und ihre Auftraggeber stellen in ihren Geschichtswerken Argumente einer politischen Partei zusammen, rechtfertigen bestehende Zustände und benutzen sie als wichtiges Gefäss für politische Propaganda.

Renward Cysat, Stadtschreiber von Luzern, ergänzt um 1570 einen historiographischen Eintrag im Luzerner Stadtbuch und interpretiert die 150 Jahre alte Darstellung der Schlacht von Arbedo neu («Bellentz», 1420).
StAL, cod. 3655, fol. 49r.

Die Chronisten legen ihren Lesern nahe, wie ihre Werke zu lesen sind («Gebrauchsangebot»). Allerdings geht jeder Leser mit einem spezifischen Interesse an die Chronik heran. Diese Bedeutungszuweisung durch den Rezipienten muss von den Absichten der Chronisten und den Vorgaben des Textes sowie von der Materialität des Geschichtswerks suggerierten Interpretationen unterschieden werden.
Neben Gebrauchsspuren (Unterstreichungen, Marginalien oder zensurierende Streichungen) geben die Manuskripte selbst entscheidende Hinweise auf die Rezeption. Bibliotheksvermerke und Besitzernamen weisen die Stücke bestimmten sozialen und institutionellen Zusammenhängen zu. Innere Ausstattung und Einband geben Hinweise auf die Wertschätzung, welche die Chroniken erfahren. Auch die Zusammenstellung mit anderen Texten verrät ein spezifisches Leserinteresse. Kaum eine Kopie stimmt wörtlich mit ihrer Vorlage überein: Auslassungen und Umstellungen können vor dem Hintergrund einer neuen Interpretation des Texts entstanden sein. Zusätze zeigen die Bewertungen durch einen Benutzer ebenso wie Zitate in neuen textlichen Zusammenhängen.
Manuskriptbeschreibung und -geschichte sowie Inhaltsanalyse sind die wichtigsten Methoden zur Erfassung der Rezeption mittelalterlicher Geschichtsschreibung.

Dankgebet der Sieger nach der Schlacht bei Laupen.
Diebold Schillings Spiezer Bilderchronik, 1484/85.
Burgerbibliothek, Mss.h.h. I 16, S. 282.

Die Funktionen der Geschichtsschreibung sind vielfältig und müssen immer mit Blick auf eine umschriebene gesellschaftliche Gruppe diskutiert werden. Diese bestimmt letztlich, welche Ereignisse und Zustände als «denkwürdig» in einem Geschichtswerk festzuhalten sind und gibt deren Interpretation vor. Dabei kommt es zur Ausbildung eines Gefühls der Zusammengehörigkeit. Gleichzeitig werden andere Gruppen, die nicht dem Kreis der mit diesem Geschichtswerk verbundenen Personen angehören, ausgeschlossen, denn: «Verlierer haben keine Geschichte».
Wer historische Inhalte und deren Interpretation formuliert, nimmt für sich in Anspruch, die Wahrheit darzustellen. Wer Macht besitzt, verfügt auch über die Autorität, Wahrheit zu definieren und durchzusetzen. Damit ist Geschichtsschreibung stets im politischen und sozialen Kräftefeld ihrer Zeit einzuordnen.
Als auf der Vergangenheit basierende und auf die Zukunft verweisende Erzählung ist Geschichte geeignet, Kontinuität zu demonstrieren, eine Tradition herzustellen und damit Legitimität zu verleihen.

Reich mit Bildern ausgestattet, auf Pergament verfasst, in prunkem Einband: Die Berner Chronik von Diebold Schilling, 1483.

Wie Urkunden oder Urbare wirken auch Chroniken nicht nur als Texte, sondern auch als Medien. Geschichte ist in eigens dafür verfertigten Büchern verzeichnet, aber auch zwischen Ratsbeschlüssen, Urkundenabschriften und Namenslisten notiert. Sie erscheint in bebilderten Prunkhandschriften, aber auch eingraviert in öffentlich angebrachten Tafeln.
Die Verwendung von dauerhaftem Material wie Pergament und ein als Feuerschutz dienender und gleichzeitig auf repräsentative Wirkung bedachter Einband aus Holz, Leder und Metall sichert nicht nur die «ewige» Geltung der geschichtlichen Aussage, sondern betont diese auch symbolisch. Eine reiche Bildausstattung hat einerseits Funktionen innerhalb der historischen Aussage – beispielsweise, indem die detailreiche Darstellung den Anspruch nach Augenzeugenschaft und damit Wahrheit hervorhebt –, andererseits repräsentiert sie die hervorragende Bedeutung des Werks für das Selbstverständnis seines Besitzers. Ist Geschichte zwischen anderen Informationen in einem auf die Planung städtischer Politik ausgerichteten Buch eingetragen («Stadtbuchchronistik»), ist sie dagegen als Teil der nur dem Rat zugänglichen Informationen zu betrachten.
Die Materialität der Texte ist ein wesentliches Moment, um Zusammenhänge zu rekonstruieren, in denen Geschichte im Mittelalter zum Tragen kommt.

«Titus Livius von Padua ein großer Fürst der griechischen und lateinischen Geschichtsschreiber ist.» Schedelsche Weltchronik, 1493.

Für die Kritik mittelalterlicher Geschichtsschreibung gelten grundsätzlich die Anforderungen der Quellenkritik. Besonders wichtig sind zudem die Methoden, welche die Sprach- und Literaturgeschichte entwickelt haben.
Für die «kritische» Geschichtswissenschaft am Ende des 19. Jahrhunderts sind Chroniken als Quellen zur Geschichte verpönt, werden doch die Informationen über historische Ereignisse offensichtlich durch die literarische Darstellung und die politische Haltung der Chronisten «verzerrt».
Mittelalterliche Geschichtsschreibung kann als Quelle über Ereignisse und Personen dienen. Dabei ist aber der Arbeitsweise der mittelalterlichen Chronisten Rechnung zu tragen: Mit der Anlehnung an Autoritäten übernehmen sie unter Umständen rhetorische Formeln oder Interpretationsmuster, welche der fiktionalen Literatur entstammen. Wesentlich bedeutender sind die Chroniken für die Analyse von Weltbild, politischer Haltung und für die Bewertung von Zeitumständen bestimmter Personengruppen: Die Geschichtswerke geben vor allem Auskunft über die Vorstellungen der Gesellschaftsgruppe, für die sie geschrieben wurden.

Das Weisse Buch von Sarnen, Geschichte der Entstehung der Eidgenossenschaft. Handschrift und Edition im Quellenwerk. QW II, Bd. 1, S. 441.

Mit dem Bild eines einzigen gültigen Texts, das viele Editionen vorspiegeln, gehen Informationen über Gebrauchs- und Interpretationszusammenhänge verloren.
Eine Eigenheit der Geschichtsschreibung ist die Herstellung mehrerer Versionen des gleichen Werks für verschiedene Adressaten. Zudem ist oft die Weiterführung durch die Rezipienten vorgesehen und sogar durch das Einbinden von leeren Seiten vorbereitet. Chroniken können als Materialsammlung, Entwurf oder auch Reinschrift erhalten sein.
Aus den unzähligen Geschichtswerken wurden viele deshalb für die Edition ausgewählt, weil sie als bedeutend für die Entstehungsgeschichte des «modernen» (National-)Staats empfunden wurden. Auch ein Reihentitel kann Programm sein, wie z. B. das «Quellenwerk zur Entstehung der Eidgenossenschaft (Quellenwerk)». Mit der Einteilung des Texts in Kapitel und Abschnitte, den Fussnoten, den im Glossar verzeichneten (und damit hervorgehobenen) Begriffe stellen die Herausgeber die Weichen für die Bewertung des Texts durch die (heutigen) Leserinnen und Leser.
Die Quellenkritik sollte deshalb heute auch eine Editionskritik umfassen, die auf die ideologische Gebundenheit der Textausgabe achtet.