Chartes et diplomatique

Urkunden zählen zu den wichtigsten mittelalterlichen Quellen. Sie werden in drei Gruppen eingeteilt: Kaiser- und Königsurkunden, Papsturkunden und Privaturkunden.

Urkunden beinhalten eine rechtliche Vereinbarung, haben einen klaren formalen Aufbau und tragen verschiedene Beglaubigungszeichen. Da ihnen Beweischarakter zukommt, gibt es zahlreiche Fälschungen. Zur Kritik der Urkunden hat sich eine eigene Hilfswissenschaft entwickelt, die Diplomatik.

Häufig sind die Originale der Urkunden nicht überliefert, sondern nur die Abschriften. Diese sind eine wichtige und nicht selten die einzige Quelle (insbesondere für das Frühmittelalter), die weit mehr als nur rechtliche oder verfassungsgeschichtliche Fragestellungen zulassen.

Siegel geben Auskunft über die Beweiskraft einer Urkunde und die an der Rechtshandlung beteiligten Personen, und sie ermöglichen Rückschlüsse auf die Bedeutung oder die näheren Umstände ihrer Ausstellung.
Urkunden mit Siegel des 15., 16. und 18. Jahrhunderts aus dem Klosterarchiv Einsiedeln.
Klosterarchiv Einsiedeln, A.BI.33, A.YI.2, A.XI.9.

Urkunden werden im Gegensatz zu den erzählenden Quellen den «Überresten» zugeordnet, weil sie als direkter Niederschlag rechtlicher Vorgänge gelten und nicht eine reflektierende Form der Ereignisse darstellen. Die Aktenlehre unterteilt das Archivgut in Urkunden und Akten. Nach dieser ebenfalls idealtypischen Unterscheidung halten Urkunden einen Rechtsakt fest, während Akten ihn als Handlung wiedergeben.
Allgemein gilt: «Eine Urkunde ist ein in bestimmten Formen abgefasstes, beglaubigtes und daher verbindliches Schriftstück, das ein Rechtsgeschäft dokumentiert.» (Hans-Werner Goetz)
Urkunden sind im wesentlichen in drei Teile gegliedert: In der Einleitung (Protokoll) wird der Aussteller genannt. Der Hauptteil (Kontext) enthält den Inhalt. Am Schluss (Eschatokoll) folgen die Datierung und die Beglaubigungsmittel wie Herrschermonogramme, Besiegelung und/oder Zeugenlisten, die der Urkunde ihre Rechtskraft verleihen.
Insbesondere im Spätmittelalter erfahren Urkunden eine funktionale, formale und inhaltliche Erweiterung. Vor allem die Privaturkunden nehmen zu. Immer häufiger bedienen sich auch Bischöfe, Äbte, Adelige, Rat und Bürger der Urkunden, um Regelungen und Abmachungen festzuhalten.


Die früheste Urkunde im Klosterarchiv Einsiedeln ist von Otto I. ausgestellt und datiert auf den 27. 10. 947.
Klosterarchiv Einsiedeln, A.BI.1.

Die Diplomatik unterscheidet nach den Ausstellern zwischen Kaiser- und Königsurkunden, Papsturkunden und sogenannten Privaturkunden, den Urkunden aller übrigen Aussteller wie etwa weltlicher und geistlicher Fürsten, Klöster, Städte und Bürger. Der Begriff ist allerdings irreführend, denn auch diese Urkunden können einen öffentlichen Charakter tragen.
Die Unterscheidung von Beweisurkunden (Notitia), die den Vollzug eines Rechtsgeschäfts festhalten, von dispositiven Urkunden (Carta), welche neues Recht schaffen, wie sie die Urkundenlehre des 19. Jahrhundert entwickelt hatte, ist so nicht haltbar. Danach kann die meist unter symbolischen Formen überreichte, mit einer Strafandrohung versehene und die Namen der Zeugen festhaltende Carta im Gerichtsverfahren die Anhörung von Zeugen ersetzen. Die Notitia hingegen dokumentiert, im Unterschied zur subjektiv verfassten Carta, in objektiver Berichtform den Prozessverlauf. Auch sie nennt Zeugen und Schreiber. Ihr kommt bei der Ausstellung und Übergabe aber keine symbolhafte Bedeutung zu.
Bereits im Mittelalter ist die Unterscheidung zwischen Diplom und Mandat geläufig. Ausschlaggebend ist dabei die Gültigkeitsdauer der getroffenen Verfügung. Während das Mandat ein einmaliges und vorübergehendes Rechtsgeschäft regelt, stellt das Diplom eine auf Dauer angelegte, rechtssetzende Urkunde dar.

Urkunden werden nach einem festen Schema verfasst, das sich in drei Teile gliedert, hier erklärt am Beispiel einer Königsurkunde:

A.

Protokoll

1. Die Invocatio mit dem Chrismon (C) ist eine stereotype Formel, welche auf die religiöse Absicherung des Rechts aufmerksam macht.
2. Die Intitulatio nennt den Aussteller der Urkunde meist mit Devotionsformel, die auf das Gottesgnadentum des Königs verweist.
3. Die Inscriptio nennt den Empfänger und ist oft mit einer Grussformel verbunden.

B.

Der Kontext bildet den Kern der Urkunde, in dem der Rechtsinhalt festgehalten wird.

1. Die Arenga enthält die Begründung der königlichen Urkundentätigkeit.
2. Die Promulgatio ist eine Verkündigungsformel, die festhält, wem der Urkundeninhalt bekannt gemacht werden soll.
3. Die Narratio erklärt das Zustandekommen der rechtlichen Vereinbarung.
4. Die Dispositio hält den eigentlichen Rechtinhalt fest.
5. Die Sanctio ist eine Poenformel, welche den Rechtsinhalt bekräftigt.
6. Die Corroboratio nennt die Beglaubigungsmittel, gegebenenfalls eine Liste der Zeugen.

C.

Eschatokoll

1. Die Subscriptio (Signumszeile) enthält das Monogramm des Königs (mit oder ohne Vollziehungsstrich).
2. Die Recognitionszeile umfasst ein (korbähnlichen) Zeichen des Notars oder Kanzlers.
3. Die Datierung nennt Ort und Zeit des Beurkundung; Rechtsgeschäft (actum) und Übergabe der Urkunde (datum) können zeitlich und räumlich auseinanderfallen.
4. Die Apprecatio beschliesst die Urkunde mit einem Segenswunsch.

Selten enthalten Urkunden alle Teile vollständig. Im Laufe der Zeit ändern sich Form und Aufbau der Urkunden und zusätzliche Typen entstehen. Es sind verschiedene Perioden in der formalen Entwicklung auszumachen, die jeweils einer bestimmten Kanzlei zugeordnet werden können.

Titelblatt der «Libertas Einsidlensis», gedruckte Urkundenedition von 1640 des Klosters Einsiedeln.
Klosterarchiv Einsiedeln, keine Signatur.

Urkunden werden gemäss ihrer Überlieferung nach Originalen und Abschriften unterschieden. Als Originale gelten Urkunden, die auf Anordnung oder mit der Genehmigung des Ausstellers entstanden sind und dem Empfänger als Beweis einer Rechtshandlung dienen.
Bereits im frühen und hohen Mittelalter werden Urkunden vor allem in Buchform (Kopial- und Traditionsbücher, Register) überliefert. Die Anfertigung von Abschriften nimmt mit dem Ausbau der Verwaltung zu. Seit der Einführung des Buchdruckes erfolgt die Überlieferung auch in gedruckten Editionen.
Da Herrschaft im Mittelalter stärker an Personen als an Institutionen gebunden ist, kommt der Bestätigung des Rechtsinhaltes durch den Rechtsnachfolger des Ausstellers grosse Bedeutung zu. Man unterscheidet dabei zwischen Vidimus und Transsumpt. Das Vidimus ist eine beglaubigte Abschrift, die das Original ersetzt. Das Transsumpt übernimmt den Inhalt einer Urkunde in eine neue Urkunde.

Titelbild «De re diplomatica» von Jean Mabillon, 1681.

Die Diplomatik ist die wissenschaftliche Lehre der Urkunden, deren Kernstück die Urkundenkritik bildet. Wegen der vielen Fälschungen wird vor allem die Echtheit von Urkunden («discrimen veri ac falsi») untersucht.
Der Begriff Diplomatik geht auf den Benediktiner Jean Mabillon (De re diplomatica, 1681) zurück. Aus der ursprünglich zur Klärung der Rechtsverhältnisse nach den Wirren des 30jährigen Krieges hervorgegangenen wissenschaftlichen Disziplin, entwickelte sich die Diplomatik im 19. Jahrhundert zur wichtigsten Hilfswissenschaft für die mittelalterliche Geschichte.
Sie berücksichtigt in erster Linie formale Kriterien zur Beurteilung von Urkunden, wobei insbesondere geprüft wird, in welcher Kanzlei die Urkunden ausgestellt wurden. Die moderne Diplomatik schliesst auch den Beurkundungsvorgang und die Rechtshandlung in die Kritik ein.

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Die Fälschungen und Verfälschungen (z.B. durch Rasur) der überlieferten Urkunden sind zahlreich. Dabei wird zwischen materieller (Rechtsinhalt) und formaler (z.B. Siegel) Fälschung unterschieden. Formale Fälschungen können inhaltlich durchaus richtig sein. Dies gilt insbesondere für die Nachherstellung von Urkunden.
Mit dem Prozess der Verschriftlichung wird die nachträgliche Herstellung einer schriftlichen Tradition wichtig. Es bedarf also einer genauen Überprüfung, was zur Nachherstellung bzw. Fälschung von Urkunden führte. Als echt gelten auch die vom Empfänger selbst ausgestellten Urkunden, sofern diese mit dem Willen des Ausstellers angefertigt wurden.
Das wichtigste Instrument der Diplomatik zur Beurteilung von Urkunden ist die Beschreibung nach äusseren (Schreib- und Beschreibstoff, Schrift, Siegel, Zeichen und Datierung) und inneren Merkmalen (Rechtsinhalt, Sprache, Form und Aufbau). Diese Merkmale können regional und zeitlich recht unterschiedlich sein. Deshalb können die Urkunden meist einer bestimmten Kanzlei zugeordnet werden. Für Privaturkunden des Spätmittelalters, die keinen strengen formalen Aufbau aufweisen, ist diese Zuordnung meistens komplizierter.

Schenkungen an ein Kloster können das Resultat eines Konfliktes sein, um Güter aus der Konfliktmasse zu lösen. Ein Beispiel dafür ist vermutlich die Urkunde der St. Johannes Pfrund des Klosters Einsiedeln aus dem 14. Jahrhundert. Klosterarchiv Einsiedeln, A.AE.2.

Die Diplomatik berücksichtigt in erster Linie formale Kriterien zur Beurteilung der Urkunden. Im Vordergrund steht dabei die Frage nach der Echtheit der Urkunden und nach ihrer Rechtserheblichkeit.
Dabei sind andere Funktion von Urkunden übersehen worden: Die Sammlung von Urkunden, resp. ihre Abschrift in Kopialbücher, kann auch der Traditionsbildung dienen. Adelige wiederum definieren ihren Status häufig über ihren Besitz und dessen Herkunft. Demnach können Urkunden auch als Teil der Herrschaftsinszenierung eine Rolle spielen.
Zu beachten gilt ausserdem: Schriftlichen Niederschlag fanden vorwiegend Konflikte. Überliefert sind vor allem die Rechte an oder der Besitz von umstrittenen Gütern. Gerade die Rekonstruktion der Gütergeschichte anhand von Urkunden ist problematisch, da die schriftliche Überlieferung selektiv ist (Roger Sablonier).
Neue Kriterien zur Quelleninterpretation, die das traditionelle Instrumentarium der formalen Quellenkritik erweitern, ergeben sich aus der Beobachtung, dass Schrift in den Kommunikationsvorgängen eine andere Rolle spielte als heutzutage.