Ostnordische Schriftgeschichte

Die nordischen Sprachen teilen sich in zwei Hauptzweige, einen östlichen und einen westlichen. Zum Östlichen gehören das Dänische und Schwedische, zum Westlichen das Norwegische, Färöische und Isländische. Dieses Tutorium macht Dich mit der Geschichte der Schrift im ostnordischen Raum näher bekannt, von den ältesten Handschriften in lateinischer Schrift bis in die Zeit, als der Buchdruck die handschriftliche Überlieferung allmählich ablöste.

Die Schrift geht im Osten Skandinaviens einen anderen Weg als in Norwegen und Island. Sie orientiert sich mehr am Kontinent als an den Britischen Inseln und weist auch deutlich weniger eigenständige Entwicklungen auf. Außerdem ist die Volkssprache im Osten weniger dominant, so dass viel Literatur auf Latein geschrieben wurde. Die zahlreichen lateinischen Handschriften werden in diesem Tutorium nur am Rande behandelt, da Schrift und Volkssprache eng miteinander verbunden sind.

Wegen des stärkeren fremden Einflusses wird die ostnordische Literatur des Mittelalters und damit verbunden auch Sprache und Schrift von Skandinavisten gerne übersehen. Deshalb soll Dir dieses Tutorium mit dem dazugehörigen Training auch einen kleinen Einblick in die textuelle Vielfalt im Osten ermöglichen.

Das dänische Dalbybogen ist wahrscheinlich die älteste in Skandinavien entstandene Handschrift. Es handelt sich um ein Evangeliar aus der Mitte des 11. Jahrhunderts und ist eine der wenigen skandinavischen Handschriften in karolingischer Minuskel.
GKS 1325 4to, fol. 193r

Die Christianisierung brachte im 10. Jahrhundert neben dem neuen Glauben auch eine neue Schrift und Schriftkultur nach Dänemark. Erstmals wurden längere Texte auf Pergament mit Tinte und Feder niedergeschrieben. Schweden folgte mit der Christianisierung im 11. Jahrhundert nach.

Die Runen wurden weiterhin parallel gebraucht, mehrheitlich für kurze Inschriften auf harten Materialien wie beispielsweise Holz, aber in seltenen Fällen auch für längere Texte auf Pergament.

Während des Hochmittelalters war die Schriftlichkeit in den Händen des Klerus. Ein wichtiges Zentrum war in der Anfangszeit die 1104 gegründete Erzdiözese Lund. Im 12. Jahrhundert entstanden dann auch zahlreiche Klöster, welche in der Folgezeit die wichtigsten Stätten der Buchproduktion wurden.

Die ältesten Handschriften sind ausnahmslos lateinisch. Es handelt sich hier um geistliche Werke und Urkunden, später auch Chroniken. Erst aus dem 13. Jahrhundert sind die ersten volksprachlichen Texte, vor allem Landschaftsrechte, überliefert.

Das Necrologium Lundense aus dem 12. Jahrhundert enthält u. a. die älteste Abschrift der Schenkungsurkunde Knuts des Heiligen von 1085, in welcher der Name Oepi erwähnt wird, der Sohn des Thorbiorn. /ø/ wird hier als oe-Ligatur wiedergegeben, /θ/ als <th>. Frühgotische Charakteristika sind das gedrängte Schriftbild, die ausgeprägten Oberlängen sowie das ovale o.
LUB Mh 6 fol. 1v.
Im Necrologium Lundense befindet sich auch ein Verzeichnis der Pfründen, in dem zahlreiche Ortsnamen erscheinen. Beim Ortsnamen Brøstingarrythisehen wir <ø> und <y> für /ø/ und /y/.
LUB Mh 6 fol. 3v.

Die ältere Forschung teilt die ältesten ostnordischen Handschriften der karolingischen Periode zu, obwohl sie meistens schon frühgotisch sind. Nur wenige Handschriften wie etwa das dänische Dalbybogen sind wirklich karolingisch.

Karolingisch und Frühgotisch lassen sich auf den ersten Blick kaum auseinanderhalten. Die frühgotische Schrift weist aber schon klar Eigenschaften der gotischen auf: Das Schriftbild ist gedrängter, enger und höher, die Ober- und Unterlängen sind ausgeprägter.

Die Handschriften dieser Periode sind ausschließlich in Latein geschrieben. Es gibt aber Texte, welche nordische Personen- und Ortsnamen enthalten. Bei diesen Namen sind die Phonem-Graphem-Korrespondenzen interessant, da es im lateinischen Alphabet nicht für alle altnordischen Phoneme Grapheme gibt. Für das Phonem /θ/ wird der Digraph <th> verwendet, für /y/ das Graphem <y> und für /ø/ <œ>, aber auch das neu geschaffene <ø>.

Diese um 1280 entstandene Handschrift ist das älteste Buch in schwedischer Sprache und enthält u. a. das Äldre Västgötalagen. Hier ist die Verwendung des <þ> zu sehen. Typisch für die gotische Textura sind die gebrochenen Schäfte und die gegabelten Oberlängen.
Cod. Holm. B 59, fol. 11r

Die Charakteristika der frühgotischen Periode entwickeln sich zur (hoch)gotischen Textura weiter. Die Buchstaben rücken noch näher zusammen, was zu den typischen Bogen­verbindungen führt. Die Schäfte werden gebrochen und erhalten spitzwinklige An- und Abstriche.

Aus dieser Periode sind nun auch die ersten volkssprachlichen Handschriften erhalten. Sowohl in Dänemark als auch Schweden handelt es sich dabei hauptsächlich um Handschriften der Landschaftsrechte. Eine der wenigen Ausnahmen bildet das dänische Arzneibuch, das Henrik Harpestreng zugeschrieben wird, oder das Altschwedische Legendarium. Dazu kommt in Fragmenten erhaltene religiöse und weltliche Literatur, die auf eine größere literarische Vielfalt in der Volkssprache hindeutet. Urkunden sind in dieser Zeit noch ausschließlich in lateinischer Sprache verfasst.

Die dem lateinischen fremden Umlaute /ø/ und /y/ werden als <ø> und <y> (oder z.T. auch <u>) verschriftlicht. In Schweden wird für /θ/ während des Hochmittelalters noch das aus dem Englischen stammende <þ> verwendet, das in dänischen Texten nicht vorkommt.

Der Kalmarer Unionsbrief von 1397 steht schriftlich, sprachlich und materiell für den Wandel im Spätmittelalter: Er ist in der Volkssprache, in Kursive und auf Papier geschrieben. Da papierene Urkunden in dieser Zeit noch unüblich waren, wird vermutet, dass dieses Dokument nur ein Entwurf war.
DRA B 3 Unionen = ny kronol. rk. 1672.

Die Schriftlichkeit erlebt vom 14. Jahrhundert an einen starken Wandel. Die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben weitet sich auf Laien aus, zuerst auf den Adel, dann auf das städtische Bürgertum. Die Ausbreitung der Schriftlichkeit wird auch durch einen neuen Beschreibstoff, das Papier, gefördert, das billiger als Pergament produziert werden kann.

Die Schrift muss sich diesem Wandel anpassen. Die größere Nachfrage nach geschriebenen Texten begünstigt die Ausbreitung der Kursive und Bastarda, welche schnelleres Schreiben erlauben.

Aus dem Spätmittelalter ist eine größere Vielfalt an Literatur erhalten. Besonders zu nennen sind höfische Dichtung, die Reimchroniken und religiöse Literatur.

Ein fundamentaler Wandel in der Buchproduktion findet im ausgehenden 15. Jahrhundert mit dem Buchdruck statt, durch den die handschriftliche Überlieferung von Literatur ihr Ende erlebt. Im administrativen und privaten Bereich wird aber bis in die Moderne noch von Hand geschrieben.

Diese Handschrift enthält eine Version des Arzneibuches von der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Der gebrochene Charakter der spätgotischen Textura zeigt sich besonders in den Bögen. Der Buchstabe o nimmt dabei eine fünfeckige Form an.
AM 187 8vo (© Den arnamagnæanske samling).

Von der Mitte des 14. Jahrhunderts an werden die Charakteristika der gotischen Buchschrift noch stärker ausgeprägt. Bögen entwickeln sich zu spitzen Winkeln und Schäfte werden doppelt gebrochen. Die vielen Brüche geben der Schrift auch ihren Namen Fraktur.

Da diese Schrift äußerst aufwändig zu schreiben ist, sind im Spätmittelalter Handschriften in Fraktur im Gegensatz zur Bastarda oder Kursive selten.

In Dänemark wird die Fraktur vor allem für liturgische Texte verwendet, aber auch für die dänische Übersetzung der Gesta Danorum. In Schweden erscheint sie hauptsächlich in Gesetzeshandschriften.

Die Schrift der frühen Drucke orientiert sich noch stark an den Handschriften, so dass die Fraktur als Druckschrift bis in die Moderne weiterlebt.

Der Urteilsbrief Magnus Erikssons von 1352 ist eine frühe schwedischsprachige Urkunde und ein besonders schönes Beispiel für den Stil der königlichen Kanzlei Mitte des 14. Jahrhunderts. Die Buchstaben sind mehrheitlich verbunden und die Oberlängen haben Schleifen.
SRA 6339.

Die Kursive wird auch für Bücher verwendet, wie diese dänische Übersetzung des Lucidarius von ca. 1450 zeigt. Im Gegensatz zur kunstvoll ausgefertigten Urkunde wirkt das Schriftbild in diesem Beispiel unruhiger, was auf eine schnellere, weniger anspruchsvolle Ausführung hindeutet.
AM 76 8°, fol. 32v.

Die Kursive entsteht schon während der hochgotischen Periode als Gebrauchsschrift. Urkunden und Briefe werden in Dänemark und Schweden noch während des ganzen Hochmittelalters auf Latein verfasst. Erst in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts wird in der Volkssprache geurkundet.

Um das Schreiben zu erleichtern und die Schreibgeschwindigkeit zu erhöhen, wird die Feder weniger abgesetzt, was zu vermehrten Verbindungen der Buchstaben und den charakteristischen Schleifen führt.

Die Kursive ist vorerst nur Gebrauchsschrift, wird aber im Spätmittelalter auch als Buchschrift eingesetzt, da der erhöhte Nachfrage nach Literatur auch eine schnellere Schreibweise erfordert.

Da sich die Laienschriftlichkeit im Spätmittelalter immer stärker ausbreitet, nimmt die Kursive immer individuellere Züge an, bis zur Unleserlichkeit.

Dieses Rituale des Klosters Vadstena von 1510 ist beispielhaft für die Vadstena-Bastarda. Die Druckstriche sind auffällig dick. Das Schriftbild ist runder als bei der Fraktur, die Buchstaben aber weniger verbunden als bei der Kursive und ohne Schleifen.
Cod. Holm. A 12, fol. 130r.

Neben der kantigen Fraktur und der flüssigen Kursive breitet sich im Spätmittelalter von Frankreich eine weitere, hybride Schriftart, die Bastarda aus und wird zur häufigsten Buchschrift. Im Gegensatz zur Fraktur ist sie runder und die Strichbreite gleichmäßiger. Die Buchstaben entsprechen weitgehend der Textualis, außer dem einstöckigen a oder dem f und s mit Unterlänge, die typisch für die Kursive sind.

In Schweden setzt sich die Bastarda schon früh durch. Darin führend ist das Kloster Vadstena, nicht nur Zentrum des Birgittinerordens, sondern auch Schwedens wichtigstes kulturelles Zentrum, das auch einen eigenen Stil, die Vadstena-Bastarda hervorbringt.

In Dänemark etabliert sich die Bastarda erst später in einem vorwiegend städtischen Milieu und ist bis Mitte des 15. Jahrhunderts die dominierende Buch- und Urkundenschrift.

Die ostnordischen Besonderheiten sind im Vadstena–Rituale von 1510 neben der Vadstena–Bastarda schön zu sehen: der Buchstabe ø und der Digraph dh anstelle des þ. Cod. Holm. A 12, fol. 130r.

Die ostnordische Schriftgeschichte geht ähnliche Wege wie jene des Kontinents oder auch des westnordischen Raumes, beginnend mit der karolingischen Minuskel über die frühgotische Buchschrift bis zur spätgotischen Fraktur, Kursive und Bastarda.

Im Gegensatz zu Norwegen und Island ist der Einfluss der insularen Schriften eher gering und beschränkt sich auf das þ, das im Dänischen keine Verwendung findet und im Schwedischen nur während des Hochmittelalters in Gebrauch ist.

Es gibt aber durchaus eigenständige Entwicklungen. Schon in frühester Zeit wird das Graphem <ø> gebildet, das im Dänischen noch heute in Gebrauch ist. Im schwedischen Vadstena bildet sich ein eigener Stil der Bastarda heraus.