«Natürliches» und «mathematisches» Mass

Mass, Zahl und Gewicht ordnen seit jeher die materiellen Erfahrungen des Menschen. Natürliche Zahlen und Relationen fügen sich zu Systemen, mit denen wirtschaftliche Prozesse gegliedert werden. Masstäbe, Gefässe, Waagen und Gewichtsstücke werden für den praktischen Gebrauch gefertigt.

Seit dem 11./12. Jahrhundert gewinnen Mass, Zahl und Gewicht eine zunehmend rechnerisch abstrakte Bedeutung. Im 13. Jahrhundert beginnen norditalienische Kaufleute die Masse in Übersichten zu erfassen. Jede wichtigere Stadt mit eigenem Markt besitzt ihr Masssystem, wobei die Einheiten, auch wenn sie gleich benannt werden, beträchtlich voneinander abweichen. Die in diesem Kapitel genannten Flüssigkeits- und Getreidemasse beziehen sich auf das Zürcher Mass, entsprechend ihrem Vorkommen in den verwendeten Quellenstücken.

Denar aus der Zeit Karls des Grossen, ca. 793, Silber, Münzstätte Mailand.
Vs: MEDIOL (Mailand) in der Mitte das Karolus-Monogramm.
Rs: CARLUS REX FR (Karl, König der Franken) mit dem christlichen Kreuz.
MoneyMuseum (Sunflower Foundation).

Die Gewichts- und Massreform Karls des Grossen (793/794) bleibt die einzige im Frankenreich bzw. im Deutschen Reich bis zur Einführung metrischer Einheiten im 19. Jahrhundert. Damit verbunden war eine Münzreform. Die Reform setzt die bestehenden regionalen Systeme und Einheiten mit Hilfe gemeinsamer Vielfacher in Relation. Neben die römischen Basiseinheiten treten die nordeuropäischen, die sich metrisch markant unterscheiden.

Das Reich kennt keine zentrale Eichbehörde. Die Verklammerung der Masssysteme verschiedener Herrschafts- und Wirtschaftsbereiche durch eine karolingische Norm hat bis ins 12. Jahrhundert Bestand. Dann aber treten die Städte neben dem regionalen Masswesen hervor und verbreiten andere, den neuen Wirtschaftsbedingungen angemessenere Masseinheiten. So entsteht ein weit verzweigtes und verästeltes Masswesen, das seinen systematischen Zusammenhang bis zur Einführung der metrischen Normen bewahrt. Allerdings fällt es dem Kaufmann des 15. oder gar des 18. Jahrhunderts immer schwerer, sich in der wachsenden Vielfalt der Einheiten der Handelspartner auszukennen. Kaufleute und Rechenmeister greifen zum Hilfsmittel der vergleichenden Masszusammenstellungen. Diese erfassen nur noch die Zahlenrelationen der Masssysteme für bestimmte Handelsregionen oder Routen.

Eichmass zu drei Zürcher Landmass für Wein (5.5 Liter); 18. Jahrhundert.
Museum Lindengut Winterthur, HVW 135.

Massgebrauch und Messpraxis in Handel und Gewerbe sind ebenso verwirrend wie Norm und Bedeutung einzelner Masseinheiten, die erst im 19. Jahrhundert vom metrischen System abgelöst werden.
Jeder Stoff hatte sein eigenes Mass. Öl, Milch, Wein und Honig werden nicht im selben Gefäss gemessen und bekommen so ihre eigenen Masse. Der Wein, dünnflüssig und rückstandslos wie Wasser, erhält kleinere Masseinheiten als die fetthaltige Milch und der dickflüssige Honig. Innerhalb einer Region sind oft mehrere Getreidemasse, verschiedene Fuss- und Ellenmasse sowie grosse und kleine Gewichte für bestimmte wägbare Stoffe in Gebrauch.
Flüssigkeits- und Längenmasse haben im Gegensatz zu heute (1 Liter = 10cm x 10cm x 10cm) unter sich keine Beziehung. Auch erhalten Tätigkeiten, die man bemessen muss, ihre eigenen Masse.
Darüber hinaus werden im Lauf des Spätmittelalters und der Frühneuzeit die Handelsbeziehungen dichter, das Warenangebot und die gewonnenen Produkte zahlreicher. Die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Veränderungen erfassen auch die Masse und Gewichte und machen vergleichende Tabellen für die Kaufleute unabdingbar. Hier liegt der Ursprung der Tabellenwerke und Handbücher des 17. und 18. Jahrhunderts. Im Laufe des 19. Jahrhunderts setzt sich dann das metrische System in der Schweiz durch und beendet das Nebeneinander der verschiedenen Masssysteme.

Schilling aus Silber, England, Elisabeth I., ca. 1591.
Der Schilling ist als Währung in England bis zur Einführung der Dezimalwährung 1970 gültig und wird schon in karolingischer Zeit als Recheneinheit zu zwölf Pence oder einem Zwanzigstel Pfund eingeführt.
MoneyMuseum (Sunflower Foundation).

In den verschiedenen Masssystemen kommen bevorzugt die Zahlen zwei, drei, vier, sechs, acht, neun, zwölf und sechzehn vor.

Vier: Viertel, Vierling, quart, Quartane, quartanée, Kartan, quarto, quartino, quartaro, quarteron

Sechs: Sextarius, Sester, sétier, Stär, Ster, staro

Acht: huitain, oytan, eytan

Zwölf: dozan, dozet, Dutzend

Sechzehn: seizain, zezan

Das heute übliche Dezimalsystem ist nicht gebräuchlich.

Vom Finger zum Erdumfang.

Fragt man nach einer Erklärung für die Grössen mittelalterlicher Masse, so kann man die «natürlichen», dem menschlichen Körper entnommenen Masse und die aus ihnen abgeleiteten «mathematischen» Masse unterscheiden: Die wichtigsten handwerklichen Grundmasse sind der Länge des Unterarms zusammen mit der Hand entnommen. Der Hand entspringen die Masse Daumen, Finger, Handbreite und Handspanne, dem Unterarm die «natürliche» Elle.
Die Längeneinheit des Fusses hingegen entspricht nicht dem Körperteil, sondern meint die Grundlage, die Basiseinheit, auf der alles «fusst». Das mathematische Mass des Fusses basiert auf dem Finger, für den 18.7 mm gemessen werden. Auf dem «natürlichen» Fingermass baut ein durch Geometrie und Arithmetik gewonnenes, «rationales» Fussmass auf. Zum Beispiel entstammt der rheinländische Fuss von 318 mm der Hypotenuse aus dem aus ägyptischer Zeit überlieferten rechtwinkligen Dreieck mit den Seitenverhältnissen in Fingern von 15:8:17.

Luzerner Elle, 44.7 cm. Bronzeguss, datiert 1373. Historisches Museum Luzern.

Der Fuss oder Schuh ist das gebräuchlichste Längenmass auf dem Gebiet der alten Eidgenossenschaft. Er zerfällt in 12 Zoll zu je 12 Linien und zu 12 Punkten je Linie. Je nach Region misst ein Fuss mehr oder weniger, immer aber ca. 30 cm. Auf dem Fuss bauen Elle, Stab, Klafter und Rute auf. Die Elle als eigentlich «natürliches Mass» wird auf den Fuss abgestimmt (1 Elle = 2 Fuss).

Für das Gebiet um Einsiedeln gilt:
Fuss = 30.4 cm
Elle = zwei Fuss = 60.8cm
Stab = vier Fuss= 121.6 cm
Zur Landvermessung dienen Klafter und Rute: Klafter ca. 6 Fuss = etwa 1.8 m, Rute ca. 10 Fuss = rund 3 m

Auf dem Klafter basieren die Raummasse für Holz, Torf und Holzkohle.

Der Feldmesser bei der Arbeit. 
Ausschnitt aus der Titelseite von Jakob Köbel, Geometrei. Von künstlichem Feldmessen und absehen, Frankfurt a. M. 1556 (Wiederabdruck der Ausgabe von 1535).
Herzog August-Bibliothek, Wolfenbüttel, Na Sammelb. 1 (1).

Im Gegensatz zu den Massen der Landvermessung wie Klafter und Rute, entsprechen die gängigen Flächenmasse der Schätzung von Arbeitsprozessen. Eine Juchart (jugerum) Ackerland bezeichnet die in einem Tag pflügbare Fläche.
Je hügeliger und steiler das Ackerland ist, desto kleiner ist die Masseinheit, da dort in einem Tag nur eine kleinere Fläche bearbeitet werden kann. Bei Acker- und Wiesland variieren die Masseinheiten je nach Region beträchtlich. So liegt die Einheit für Ackerland im schweizerischen Mittelland zwischen 27 und 36 Aren, in den Gebieten, in denen vorwiegend Getreide angebaut wird, zwischen 32 und 36 Aren.

Umrechnungen ins metrische System basieren auf Umrechnungstabellen aus dem 19. Jahrhundert und sind deshalb, wenn überhaupt, mit Vorsicht auf frühere Jahrhunderte anzuwenden.

Für das Zürcher Gebiet gilt:
1 Juchart Ackerland = 32.7 Aren
1 Juchart Wiesland (Mannwerk) = 29.1 Aren
1 Juchart Rebland = 25.4 Aren
1 Juchart Wald und Rietboden = 36.3 Aren

Eine Juchart wird in vier Vierlinge oder Viertel unterteilt zu wiederum vier Quärtli:
1 Juchart = 4 Vierling = 16 Quärtli

Im Vordergrund sitzen zwei Bauern mit einer Gelte. «Habspurg im Ergaw», Kupferstich von Matthäus Merian d. Ae, vor 1650.

Flüssigkeiten wie Öl, Milch, Honig und Wein werden mit verschiedenen Massen und Gefässen gemessen. Die Masseinheiten sind krug- und topfförmig. Masssysteme für Flüssigkeiten gibt es verhältnissmässig wenige und entsprechend gelten sie für grosse Gebiete. Im Zürcher Gebiet gibt es darüber hinaus sogenannte Trübmasse für ungegorenen Wein, sogenannte «trübe Sinne». «Sinne» kommt von der Tätigkeit «sinnen» und bedeutet: mit einem Zeichen versehen, eichen.

Weinmasse (Zürich):
1 Saum lautere Sinne = 1 1/2 Eimer lauter (165.05 Liter)
1 Eimer lauter = 4 Viertel = 30 Köpfe = 60 Landmass
1 Saum trübe Sinne = 1 1/2 Eimer trüb (176.05 Liter)
1 Eimer trüb = 4 Viertel = 32 Köpfe = 64 Landmass
1 Landmass (4 Schoppen) (1.83 Liter)
(Einsiedeln) 1 Mass lauterer Wein (1.83 Liter), 1 Mass Honig (1.38 Liter), 1 Mass Milch (2.03 Liter)

Der lautere Wein scheint ein Wein besonderer Qualität zu sein, der sich wahrscheinlich durch einen höheren Reinheitsgrad oder eine geringere Trübung auszeichnet. Lauterer Wein wird gelagert, damit sich die Trübung setzen kann.


Rauhes Schaffhauser Viertel für Getreide (Hafer, unentspelzter Dinkel), Inhalt: 25 Liter, vermutlich 18. Jahrhundert.
Ortsmuseum Rafz, Inv. Nr. RA 0643.

Bis ins 19. Jahrhundert wird Getreide nicht nach Gewicht, sondern nach Volumen gemessen, ebenso wie Salz, Beeren, Nüsse, Hülsenfrüchte, Honig usw. Man unterscheidet Hohlmasse für entspelztes Getreide, die «glatte Frucht» (Kernen), und solche für unentspelztes Korn, «rauhe Frucht», bei welchem nach dem Dreschen noch zwei Körner zusammen in einem Spelz verbleiben. Diese Unterscheidung ist ein ständiger Herd für Konflikte, je nachdem wie der Müller das Getreide der Bauern abfüllt.

«Rauhe Frucht»
1 Malter = 4 Mütt (333.6 Liter)
1 Mütt = 4 Viertel = 16 Vierling (83.4 Liter)
1 Viertel = 4 Vierling (oder auch 4 Köpf) = 16 Mässli oder 9 Immi (Einsiedeln: 16 Immi) (20.85 Liter)

«Glatte Frucht»
1 Mütt= 4 Viertel (82.8 Liter)
1 Viertel = 4 Vierling (20.7 Liter; 1 Vierling = 5.2 Liter)

Die wesentlichen Massbegriffe entstammen dem römischen Masssystem (Modius wird zu Mütt, hemina zum Immi), sind aber deutlich grösser als ihre römischen Vorläufer. Der Malter dient als reine Rechnungseinheit ohne entsprechendes Behältnis und wird vor allem für Hafer verwendet. Das Mütt hingegen entspricht der Transporteinheit eines grossen zwilchenen Sacks. Der Zehntertrag wird oft in unentspelztem Brotgetreide (Dinkel, Fäsen) berechnet, während der Grundzins in sauberem Kernen zu liefern ist.

Schilling aus Silber, Zürich, 1589, Rückseite.
1 Rechnungsgulden entspricht vom 16. Jahrhundert an 40 Schilling.
MoneyMuseum (Sunflower Foundation).

In UrkundenUrbaren oder Rechnungen werden die Einkünfte, welche ein Gut abwirft, häufig in der Rechengrösse «Stuck» angegeben. Das Stuck (Stücken, lat. frustum, frusta) entspricht einem Mütt Kernen und ursprünglich dem 40. Teil einer Mark Silber. Geld- und Warenmengen werden aber nicht überall einheitlich als Stuck bewertet.

Titelblatt des Mathematikbuches von Petrus Apianus, De ponderibus propositiones (1533).

Für das europäische Gewichtswesen bilden die antiken Traditionen die Basis, auf der sich ein grundlegender Normenwandel in karolingischer Zeit vollzieht.

Römisches Pfund: 1 libra = 12 unciae = 72 solidi = 576 oboli (327g)

Zum Teil wird das Gewicht, zum Teil werden nur die Begriffe und Einteilungen übernommen. Das Münz- bzw. Markpfund (240 denarii von 1.701g = 408.2g) und das Handelspfund Karls des Grossen (435.5g) halten 15 bzw. 16 Unzen (= 30 bzw. 32 Lot) von 27.2g, womit sie deutlich von der Norm der römischen libra abweichen.
In Deutschland und Italien benützt man meistens zwei Gewichte, ein «leichtes» Gewicht für den Handel und ein «schweres» lokales Pfund vor allem für Massenware. Das schwere Pfund wird zum Beispiel für das Aufwiegen von frischem Fleisch verwendet. Nach Georgius Agricola (1494-1555) braucht man es generell, um eine «grosse Menge von etwas ganz Schwerem» zu wiegen. Das leichte Pfund hingegen gilt für Waren wie Wachs, Rosinen und Gewürze aller Art.

Zürcher Gebiet:
1 Pfund schweres Gewicht zu 36 Lot = 528g
1 Pfund leichtes Gewicht zu 32 Lot = 470g
1 Zentner = 100 Pfund

Um eine gerechte Messrute für den Feldmesser herzustellen, schlägt der Heidelberger Jakob Köbel 1556 folgendes vor: Sechzehn Männer sollen, so wie sie beliebig aus der Kirche kommen, ihre linken Füsse hintereinander stellen. Die Gesamtlänge wird in sechzehn gleiche Teile geteilt.
Herzog August-Bibliothek, Wolfenbüttel, Na Sammelbd. 1 (1).

Die Kontrolle von Mass und Gewicht ist mit dem Marktrecht verknüpft. Der Marktherr betraut den Fechtmeister (Eichmeister) mit der Aufsicht. Mittels Urmassen überprüft dieser die Masse und Gewichte der Händler, Wirte und Müller und zeichnet sie mit dem Fechtstempel.

Es kommt vor, dass Handwerker und Händler in ihrer Tätigkeit zu unerlaubten Mitteln greifen: Unrechtes Gewicht und zu kurzes Mass sind immer wieder in den Quellen belegt. Dem versucht die Obrigkeit durch Satzungen, Kontrollen und Geldbussen beizukommen. Daneben werden wichtige Mass- und Gewichtseinheiten an stark frequentierten Kirchen und Brunnen sichtbar für jedermann angebracht. Auf dem Marktplatz in Gruyères sind drei Getreidemasse erhalten geblieben.

Am Freiburger Münster (D) sind das Klafter- und Ellenmass, die Umrisse verschiedener Brote sowie Ziegel und Backsteine eingemeisselt. Am selben Münster lässt der Rat der Stadt 1295 ein Zubermass für Holzkohle einmeisseln mit dem Hinweis, dass acht solche Zuber einen Karren ergeben.