Siegel

Siegel und die Siegelkunde, die Sphragistik, spielen im Zusammenhang mit Urkunden und der Diplomatik eine wichtige Rolle. Als ursprünglicher Bestandteil der Urkundenlehre entwickelt sich die Sphragistik im 19. Jahrhundert zu einer selbständigen Disziplin im Rahmen der Historischen Hilfswissenschaften. Gegenstand der Sphragistik bilden die historische Entwicklung des Siegelwesens sowie rechtliche, technische, ikonographische und symbolische Aspekte der Siegel.
Die in grosser Zahl überlieferten Siegel in den Archiven besitzen für verschiedene wissenschaftliche Disziplinen einen hohen Aussagewert.

Siegelmasse, Typar und Gipsabguss des zeitgenössischen Konventsiegels des Klosters Einsiedeln.

Der deutsche Begriff Siegel ist vom lateinischen Wort «sigillum», der Diminutivform von «signum» (=Zeichen), abgeleitet. Die Bezeichnung Sphragistik stammt vom griechischen Wort «sphragis» und steht ebenso für «Zeichen» im weiteren Sinne.
Mit dem Begriff des «Siegels» kann zum einen der Abdruck einer geprägten oder geschnittenen Form in einer weich gemachten und später erhärtenden Masse, zum anderen die (meist negative) Form selbst, auch Siegelstempel, Typar oder Petschaft genannt, bezeichnet werden.
Auf einer höheren Abstraktionsebene wird das Siegel auch definiert als «Abdruck, der mittels eines individuell gestalteten Stempels hergestellt wird und als rechtserhebliches Zeichen des Siegelführers für die Echtheit, Unversehrtheit oder Gültigkeit eines Sachverhaltes oder einer Willensbekundung eintreten soll» (Toni Diederich).

Das Wachssiegel einer Urkunde Ottos III. vom 18. Juni 990 zeigt den König in Frontalansicht mit den herrscherlichen Insignien Krone, Szepter und Globus.
Klosterarchiv Einsiedeln, A.AI.11.


Der Avers der Bleibulle einer Urkunde Ottos III. vom 29. April 998 zeigt die Büste des jugendlichen Kaisers im Profil. Der Revers der Bulle knüpft mit der Umschrift «Erneuerung des Imperiums der Römer» an karolingische Vorbilder an. Spätere Siegel Ottos III. beziehen sich formal stark auf die päpstlichen Bleibullen und unterstreichen damit den Anspruch des Kaisers, gemeinsam mit dem Papst das christliche «Imperium der Römer» zu lenken.
Klosterarchiv Einsiedeln, A.AI.14.

Siegel werden in der Antike als Verschlussmittel, Erkennungszeichen und Beglaubigungsmittel benutzt.
In antiker Tradition untersiegeln zunächst die Päpste und oströmischen Kaiser ihre Urkunden. Sie dienen den fränkischen Herrschern als Vorbild und beeinflussen das mittelalterliche Siegelwesen damit entscheidend. Spielen die Siegel zuerst als Erkennungs- und Autoritätszeichen eine Rolle, werden sie, in karolingischer Zeit mehr und mehr zum Beglaubigungsmittel. Es gibt Hinweise darauf, dass die Besiegelung vor der Übergabe einer Urkunde im Rahmen eines zeremoniellen Aktes öffentlich vorgenommen wird.

Seit dem Ende des 9. Jahrhunderts erweitert sich der Kreis der Aussteller von Siegelurkunden: Neben den geistlichen Würdenträgern (Bischöfe usw.) treten weltliche Fürsten (Grafen usw.), geistliche Institutionen (Klöster usw.) und deren Repräsentanten (Äbte usw.) sowie Städte als Siegelführer in Erscheinung.
Seit dem 13. Jahrhundert stellen auch Pfarrer, Bürger und Bauern sowie verschiedene Korporationen und Institutionen (Universitäten, Zünfte, Gerichte usw.) eigene Urkunden aus und tragen zur Verbreitung der Siegelurkunden vor allem im 15. Jahrhundert bei.
Da im Mittelmeerraum Urkunden durch öffentlich bestellte Notare hergestellt werden und das Notariatsinstrument nicht besiegelt ist, erlangt das Siegelwesen in diesem Raum kaum Bedeutung.
Spätestens mit dem Ende des Ancien régime verlieren die Siegelstempel ihre rechtliche und administrative Bedeutung.

Die Urkunde im Zusammenhang der Streitigkeiten zwischen Abt und Konvent von Einsiedeln vom 1. August 1314 zeigt von links nach rechts die Siegel des Abtes, des Konventes und der Stadt Zürich.
Um Streitigkeiten bezüglich des Siegels vorzubeugen soll «das Siegel fortan in der Sakristei, ... , in einem besonderen Schrein mit zwei Schlössern und zwei Schlüsseln verbleiben und einer der Professbrüder diese verwahren und auf gemeines Verlangen siegeln solle. Besteht aber Uneinigkeit und lässt sich die Minderheit nicht belehren, so ist Herr Albert von Uerikon, ..., einstimmig erwählt, nach Anhörung beider Teile innerhalb acht Tagen zu entscheiden, und sein oder des nach seinem Tod Erwählten Entscheid muss anerkannt werden...»
Klosterarchiv Einsiedeln, A.DC.1.

Neben ihrer Verwendung als Verschlussmittel und Erkennungszeichen, haben Siegel primär rechtliche Funktion:
«Ohne das im Text angekündigte Siegel ist das Schriftstück keine Urkunde im eigentlichen Sinne; ohne Anbringung an einem Schriftstück besitzt der (lose) Siegelabdruck keine Rechtsqualität.» (Toni Diederich)
Nach mittelalterlicher Auffassung bilden Kaiser, Könige, Päpste, weltliche und geistliche Fürsten sowie Klöster und Städte einen Ausstellerkreis, der über ein «sigillum authenticum» verfügt. Die Inhaber dieser Siegel können damit sowohl den eigenen als auch den Urkunden Dritter Rechtskraft verleihen («Siegelung in fremder Sache»).
Liegt eine Siegelkarenz vor, ist es möglich, siegelführende Organe der Rechtspflege (zum Beispiel ein Gericht) oder einen anderen Siegelführer für die Ausstellung einer Urkunde oder als Siegelzeugen heranzuziehen.
Zahlreiche Vorschriften hinsichtlich der Siegelkompetenz und der sicheren Aufbewahrung der Siegelstempel belegen die hohe rechtliche Bedeutung der Siegelführung. In Städten oder Institutionen mit verschiedenen, oft konkurrierenden Verfassungsorganen ist die Siegelkompetenz nicht selten umstritten. In Einsiedeln zum Beispiel ist eine Urkunde von 1314 (A.DC.1) überliefert, in der Abt und Konvent vereinbaren, das Konventssiegel in einem Schrein in der Sakristei aufzubewahren, um Streitigkeiten wegen «unvorsichtiger Verwahrung und Anhängung» vorzubeugen.
Siegelmissbrauch oder -fälschungen werden hart bestraft.

Der Avers der Goldbulle einer Urkunde von Kaiser Sigismund aus dem Jahre 1434 zeigt den thronenden Herrscher mit Krone, Szepter und Globus sowie eine äussere (SIGISMUNDUS DEI GRA ROMANORU IMPERATOR SEMP AUGUST AC HUNGARIE) und eine innere Umschrift (CROACIE REX BOHEMIE DALMACIE).
Klosterarchiv Einsiedeln, A.XI.9.

Als Siegelstoff finden verschiedene Materialien Verwendung.
Bei Pergamenturkunden vorherrschend sind Siegel aus Bienenwachs. Diese erhalten je nach Kanzlei durch verschiedene Beimischungen unterschiedliche Konsistenz und Farben. Als besondere Wachsfarbe gilt Rot, das im Spätmittelalter hauptsächlich von Herrschern, von Städten mit Rotwachsprivilegien und Kardinälen benutzt wird.
Neben Wachs spielen Metalle, als sogenannte #Bullen (Bulle)#, eine wichtige Rolle: Hauptsächlich in der päpstlichen Kanzlei werden zweiseitige Bleisiegel, in Byzanz, Russland und von den römisch-deutschen Kaisern und Königen Goldbullen, bzw. vergoldete Silberbullen verwendet.
Als Typare werden Siegelringe oder Petschaften eingesetzt. Petschaften sind meist mit einem Handgriff versehene Metallplatten. Für die Bullen verwendet man zangenförmige Doppeltypare. Es gibt Typare, die jahrhundertelang in ununterbrochenem Gebrauch stehen (beispielsweise in London von 1219 bis 1957). Die von den Typaren hinterlassenen Abdrücke können einfach rund, mehrkantig, spitzoval (vor allem bei geistlichen Personen oder Institutionen) oder schildförmig sein.
Je nach Kanzleigewohnheit gibt es auch für die Anbringung der Siegel an der Urkunde verschiedene Möglichkeiten: Das Siegel kann unter dem Text aufgedrückt, als Verschluss auf das zusammengefaltete Blatt aufgedrückt oder mit einem durch Einschnitte befestigten Pergamentstreifen oder an einer Seiden- oder Hanfschnur angehängt werden.

Ein Kaufbrief vom 1. Februar 1325 weist von links nach rechts folgende fünf Siegel auf:
1. Spitzovales Siegel Hiltbolds von Wehrstein, des Abtes von St. Gallen
2. Rundsiegel des Konventes von St. Gallen
3. Rundsiegel Rudolfs von Ramschwag und seiner Söhne
4. Konrads und
5. Ulrichs von Ramschwag
Die letzten drei Siegel unterscheiden sich nur durch ihre Umschrift. In der Regel siegelt der Ranghöchste ganz links, gefolgt von den anderen Sieglern bis zum Rangniedrigsten ganz rechts.
Klosterarchiv Einsiedeln, G.LA.1.

Für viele Institutionen und Personen sind nacheinander oder gleichzeitig verschiedene Siegel belegt. Von Otto III. (983 - 1002) beispielsweise sind Wachssiegel von insgesamt fünf verschiedenen Stempeln bekannt.
Gründe für die Anfertigung eines neuen Siegelstempels sind Abnützung, Beschädigung oder Verlust des Typars sowie Veränderungen bezüglich der Rechtsstellung und des Selbstverständnisses des Siegelführers. Kaisersiegel und Bullen zum Beispiel sind als zentrale Elemente der Herrschaftsrepräsentation in ihrer Abfolge Ausdruck einer sich rasch entwickelnden oder verändernden Programmatik.
Seit dem 13. Jahrhundert setzt allgemein eine Differenzierung der Siegel ein, bei der dieselben Siegelführer zwei oder mehr Typare nebeneinander verwenden. Die Siegelstempel unterscheiden sich hauptsächlich in ihrer Grösse und durch die meist in der Umschrift bezeichnete Zweckbestimmung. Durch diese kann eine begrenzte Anzahl von Siegelarten unterschieden werden.


Das Majestätssiegel einer Urkunde König Konrads II. vom 15. Juli 1025 zeigt den thronenden Herrscher in Frontalansicht mit den herrscherlichen Insignien Krone, Szepter und Globus.
Klosterarchiv Einsiedeln, A.AI.18.

Für den deutschsprachigen Raum lassen sich folgende Siegelarten unterscheiden:

  • Das grosse Siegel (sigillum maius, Hauptsiegel): in den Kanzleien der Kaiser und Könige nach der thronenden Maiestas «Majestätssiegel» genannt, ist meist den wichtigeren Beurkundungsfällen vorbehalten.
  • Das kleine Siegel (sigillum minor, Nebensiegel): im allgemeinen zur Verwendung in spezieller Funktion oder Zuständigkeit entstanden, verbreitet sind:
  • Geschäftssiegel: für gewöhnliche Geschäftsurkunden Missivensiegel: für die offizielle Korrespondenz
  • Ladesiegel: für die Vorladung vor ein Gericht
  • Vertragssiegel: für die Besiegelung von Verträgen
  • Das Sekretsiegel (sigillum secretum): ursprünglich als Briefverschlusssiegel verwendet, oft aber auch als selbständiges kleines Urkunden- oder Rücksiegel eingesetzt.
  • Das Rücksiegel (contrasigillum): auf der Rückseite des grossen Siegels als Gegensiegel eingedrückt, um Fälschungen und Missbrauch vorzubeugen.
  • Das Signet: seit dem ausgehenden Mittelalter von Königen und Fürsten als persönliches kleines Siegel in Gebrauch.

Die Urkunde Herzog Albrechts von Österreich vom 4. Oktober 1349 ist mit einem grossen Reitersiegel versehen.
Klosterarchiv Einsiedeln, A.WI.5.

Je nach dargestelltem Motiv werden verschiedene Siegeltypen unterschieden. Im «Vocabulaire international de la sigillographie» findet sich eine am äusseren Erscheinungsbild orientierte Typologie, die eine schnelle Klassifizierung der jeweiligen Siegel ermöglicht. Vom Siegelführer häufig zur Selbstdarstellung benutzt, stellen Siegel auch Bedeutungsträger mit einer zentralen Aussage dar. Diese wiederum liefert das entscheidende Kriterium zur Entwicklung einer neuen Siegel-Typologie (Toni Diederich):

  • Bildnissiegel lassen sich beispielsweise in einfache Bildnissiegel (Selbstdarstellung ohne Hervorhebung von Besonderheiten), Majestätssiegel (mit Herrschaftszeichen), Souveränitätssiegel (Standfigur des Herrschers), Reitersiegel, Jagdsiegel, Richtersiegel (mit einschlägigen Symbolen) oder Gruppenbildnissiegel unterteilen.
  • Von hohem Identifikationswert sind die Typen: Initialen-, Monogramm-, Namen-, Hausmarken- und Wappensiegel.
  • Beim Typ des redenden Siegels spielt die Darstellung im Siegelfeld auf den Namen oder die Tätigkeit des Siegelführers an.
  • Oft werden Personen, Ereignisse, Handlungen oder Gegenstände dargestellt, die für den Siegelführer wichtig sind: Stadtgründer-, Stadtherren-, Kirchengründer-, Heiligen-, Fischerring- (bei Päpsten), Erzähl- und Handlungssiegel sowie Siegel mit idealisierter oder realistischer Architekturdarstellung.
  • Schriftsiegel mit einer knappen schriftlichen Aussage im Siegelfeld.
  • Symbolsiegel mit unterschiedlicher, nicht immer eindeutig fassbarer symbolischer Aussage.

Der Schaukasten im Klosterarchiv Einsiedeln enthält Gipsabgüsse der Siegel der Äbte von Einsiedeln vom 12. bis ins 19. Jahrhundert.

Der für die Forschung günstigen Quellenlage, was die Menge der erhaltenen Siegel anbelangt, steht die Tatsache gegenüber, dass das Material sehr disparat überliefert und nur zu einem geringen Teil publiziert ist.
Siegel besitzen nicht nur für die Urkundenlehre, Rechts- und Kunstgeschichte, sondern auch für viele andere wissenschaftliche Disziplinen wie die Kirchen-, Landes-, Orts- und Personengeschichte, die Namenforschung, Heraldik, Numismatik, Genealogie, Epigraphik usw. einen hohen Quellenwert. Im Bereich der Realienkunde beispielsweise erlauben die bildlichen Darstellungen wichtige Erkenntnisse im Zusammenhang mit historischen Kostümen, Waffen, Schiffen, Handwerksgeräten und vielen Alltagsgegenständen.
Dabei müssen die Siegel in den richtigen räumlichen, zeitlichen, sozialen und sachlichen Kontext gestellt und adäquat interpretiert werden. In der neueren Forschung wird beispielsweise die Frage gestellt nach der Funktion des Siegelbildes als Bedeutungsträger in der öffentlichen Kommunikation und im Beziehungsfeld zwischen dem Herrschaftsträger und seinen Getreuen.