Orientierungsmittel und Nachschlagewerke zur lateinischen Sprache im Mittelalter

Das Verständnis lateinischer Quellen des Mittelalters stellt für viele angehende Historikerinnen und Historiker eine Herausforderung dar. Das ist begreiflich, fokussiert doch die gymnasiale Lateinausbildung und damit unser Vorwissen meist ganz auf das klassische, antike Latein. Es gibt aber diverse Hilfsmittel und Wörterbücher, deren Gebrauch den Umgang mit mittellateinischen Texten erleichtern. Ihr Einsatzgebiet und ihre Spezifika sollen auf den folgenden Seiten vorgestellt werden.

Eine der beliebtesten Einführungen ins Mittellatein ist das von Mantello und Rigg herausgegebene, 1996 erstmals erschienene Buch «Medieval Latin». Es ist auch für ein studentisches Budget bezahlbar, gut gegliedert, und die einzelnen Kapitel sind von ausgewiesenen Kennern der Materie verfasst worden.

Jenen, die sich grundlegend in die Materie einarbeiten beziehungsweise sich mit Überblickswerken einen ersten Einblick verschaffen möchten, seien hier zuerst ein paar Lektüreempfehlungen gegeben.
Ein vielseitiger und als Einführung geeigneter Sammelband, der Einsicht in verschiedene Aspekte des mittelalterlichen Lateins gewährt – die Grammatik allerdings wenig berücksichtigt – ist «Medieval Latin. An Introduction and Bibliographical Guide» herausgegeben von F. A. C. Mantello und A. G. Rigg.
«Le Latin Médiéval» von P. Bourgain und M.-C. Hubert ist eine konzise Einführung, die vor allem die historische Entwicklung der Sprache darlegt, viele Textbeispiele beinhaltet und dabei sprachliche Besonderheiten nicht ausser Acht lässt.
Einen kurzen Überblick – auch über Besonderheiten – bietet «Introduction to Medieval Latin» von K. Strecker und R. B. Palmer.
Keinen systematischen Überblick, aber viele anhand ausgewählter Texte dargestellte und besprochene Beispiele für sprachliche Eigenheiten des mittelalterlichen Lateins bietet das «Manuel pratique de latin médiéval» von Dag Norberg.
Ebenfalls ein Einstiegswerk mit vielen Textproben, die mit einem Kommentar versehen sind, ist «Reading Medieval Latin» von K. Sidwel.
Als Lesebuch mit begleitenden Übungen empfiehlt sich «Apprendre le latin médiéval» von M. Goullet und M. Parisse; die Besonderheiten des mittelalterlichen Lateins werden hier allerdings nur vereinzelt thematisiert.

Wörter aus dem Bereich des mittelalterlichen Lehnswesens. All diese Wörter werden erklärt und besprochen im Abschnitt «Lehnswesen» im «Handbuch zur lateinischen Sprache des Mittelalters», Band 1, III, §§ 33 und 34.

Das nebst Wörterbüchern vermutlich wichtigste und nützlichste Nachschlagewerk für die Arbeit mit mittelalterlichen lateinischen Texten ist das fünfbändige «Handbuch zur lateinischen Sprache des Mittelalters» (HLSMA, 1996-2004) von Peter Stotz. Es ist sehr übersichtlich aufgebaut, und die einzelnen Bände behandeln unterschiedliche Teilgebiete innerhalb der mittellateinischen Philologie.

Im Abschnitt «Wörter und Sachen» (Band 1) wird übersichtlich der Wortschatz bestimmter im Mittelalter wichtiger Spezialbereiche dargestellt, so z. B. das Vokabular betreffend Nahrungsmittel, Kleidung, Hausrat, Siedlungsformen, Handwerk und vieles mehr. Wörter, die aus dem Griechischen, Arabischen, Hebräischen und aus den europäischen Volkssprachen entlehnt worden sind, werden im Abschnitt «Lehnwortgut» (ebenfalls Band 1) behandelt.

Eine systematische Darstellung der lautlichen Besonderheiten und eine Übersicht über die Besonderheiten im Bereich der Formenlehre, Syntax und Stilistik sind vor allem in Band 3 und Band 4 zu finden, zum Teil auch im Abschnitt «Wortbildung» (Band 2).

Ausgesprochen hilfreich ist vor allem das Register (Band 5), das in vielen Fällen nicht nur schon für sich allein den Griff zu einem Wörterbuch ersetzen kann, sondern zusätzlich auf den entsprechenden Abschnitt im Handbuch selbst verweist, wo Informationen über das Entstehen und die Verbreitung einer Sonderform oder Sonderbedeutung zu finden sind.

Das in der Antike (und auch später im Mittelalter) seltene Wort pytisma in drei gängigen lateinischen Wörterbüchern.

Die lateinische Sprache des Mittelalters knüpft in weiten Teilen Europas an die spätantike Latinität an; ausserdem gehörten antike Autoren zu den Stützen des mittelalterlichen Bildungskanons. Deshalb sind für die Arbeit mit mittelalterlichen Texten Wörterbücher, die den lateinischen Wortschatz nicht nur der klassischen Zeit, sondern auch der Spätantike verzeichnen, grundlegend, denn sehr viele Wörter beziehungsweise Wortbedeutungen, die im klassischen Latein nicht vorhanden waren, sind nicht mittelalterlich, sondern kommen schon in der Spätantike vor.

Für die Praxis sehr geeignet ist z. B. das zweibändige «Ausführliche lateinisch-deutsche Handwörterbuch» von Karl Ernst Georges (kurz «Georges»), das auch online zugänglich ist.
Als mögliche Alternative zum «Georges» ist noch das etwas weniger verbreitete, ebenfalls zweibändige «Handwörterbuch der lateinischen Sprache» von Reinhold Klotz zu erwähnen.
Das wichtigste moderne lateinische Wörterbuch, der seit 1900 erscheinende «Thesaurus linguae Latinae» (ThLL, vorläufig in zehn Bänden für die Buchstaben A-M und O-P vorhanden), ist unentbehrlich für linguistisch-philologische Untersuchungen, jedoch meistens zu ausführlich für die praktische Quellenarbeit in der Mittelalterforschung.

Das spätantike Wort micrologus in drei Wörterbüchern, die spätlateinische Schriftsteller berücksichtigen.

Neben den grossen, den ganzen Wortschatz der lateinischen Sprache verzeichnenden Wörterbüchern gibt es einige ergänzende Werke, die in bestimmten Fällen auch für die mediävistische Arbeit von Nutzen sein können.

Das «Lexikon der lateinischen Wortformen», wiederum von Karl Ernst Georges erarbeitet, verzeichnet viele bereits im antiken und spätantiken Latein vorkommende morphologische Besonderheiten, die oft (als Nebenformen) auch im Mittelalter weiterleben.
Der «Thesaurus poeticus linguae Latinae» von L. Quicherat behandelt die Sprache der lateinischen Dichtung. Auch dieses Wörterbuch kann gelegentlich hilfreich sein: einerseits, wenn es um sprachliche Besonderheiten in der metrischen Dichtung geht, andererseits, weil die klassische lateinische Dichtersprache im Mittelalter auch in die Prosa eingeflossen ist.
Ein konzises und nützliches Nachschlagewerk für das spätere Latein ist das «Glossary of Later Latin to 600 A. D.» von A. Souter.
Für die christlichen Schriftsteller der Spätantike und natürlich für die darauf basierende nachfolgende theologische Literatur leistet der «Dictionnaire Latin-Français des auteurs chrétiens» von A. Blaise in einigen Fällen gute Dienste.

Die mittelalterlichen Bedeutungen des Wortes pittacia im «Novum Glossarium», den Bedeutungen des antiken pittacium (nach «Georges») gegenübergestellt.

Zur Zeit wird an zwei grossen Wörterbüchern zur mittelalterlichen Latinität gearbeitet: am «Mittellateinischen Wörterbuch» (ein Projekt der Bayerischen Akademie der Wissenschaften) und am «Novum Glossarium» (auch «Nouveau Du Cange» genannt).

Das «Mittellateinische Wörterbuch» wird anhand von sehr umfassendem Material erarbeitet, das vom 6. Jahrhundert bis 1280 (Todesjahr von Albertus Magnus) reicht. Die Bände erscheinen seit 1967 und decken vorläufig die Buchstaben A-H ab. Das «Mittellateinische Wörterbuch» wie auch viele regionale Wörterbücher sind langfristige Projekte und arbeiten sich nur langsam zum Ende des Alphabets vor. Deshalb beschloss man, die Arbeit am «Novum Glossarium» nicht bei A, sondern in der Mitte des Alphabets anzufangen. Der erste Band, mit dem Buchstaben L, ist 1957 erschienen, die vorläufig letzte Lieferung (Stand 2015) befindet sich beim Buchstaben P («Plana-Plego»). Das «Novum Glossarium» stützt sich auf das Material aus der Zeit von 800-1200.

Das mittelalterliche, aus dem Bereich des Lehnswesens stammende Verb feoffare im «Niermeyer» und «Du Cange».

Unter den kleineren mittellateinischen Wörterbüchern soll vor allem auf das «Mediae Latinitatis lexicon minus» von J. F. Niermeyer hingewiesen werden. Sowohl die einbändige (ab 1957 lateinisch-französisch/englisch) als auch die spätere zweibändige Ausgabe (2002, zusätzlich auch noch deutsch) sind sehr nützlich, wenn es um Begriffe aus dem Alltag, aus dem Rechtsleben oder um Verwaltungsakten geht. Somit ist das Wörterbuch bestens auf die Arbeit in der Geschichtsforschung ausgerichtet.

Ein historisches Werk, ja für lange Zeit ein Standardwerk mit ähnlichem Profil, ist das sehr umfangreiche «Glossarium mediae et infimae Latinitatis» von Charles du Fresne, sieur du Cange, erstmals erschienen in Paris 1678. Die Artikel genügen zwar nicht mehr den heutigen Standards; die Fülle an Material und historischen Erläuterungen machen den «Du Cange» jedoch immer noch zu einem wertvollen Nachschlagewerk. Die Erklärungen sind in lateinischer Sprache. Es empfiehlt sich, mit der zehnbändigen Ausgabe von 1883-1887 zu arbeiten, die durch viele bedeutende Ergänzungen zur ursprünglichen Fassung angereichert worden ist. Der Du Cange ist auch online abrufbar.

Für die Latinität der frühen Neuzeit empfiehlt sich, bei Problemfällen einen Blick in das einbändige «Lexique de la prose latine de la Renaissance» von R. Hoven zu werfen.

Das vom Verb feoffare abgeleitete Substantiv feoffatio im «Dictionary of Medieval Latin from British Sources».

Regionale Wörterbücher (auch als nationale Wörterbücher bezeichnet) sind naturgemäss nützlich, wenn es darum geht, mittelalterliche lateinische Texte aus einer bestimmten Region zu bearbeiten. Oft ist das Einsatzgebiet solcher Hilfsmittel auch auch grösser, da sie aufgrund des bearbeiteten Sprachmaterials gewisse Sachgebiete oder Zeitabschnitte berücksichtigen, die sonst in den allgemeinen mittellateinischen Wörterbüchern nur dürftig vertreten sind. So hat z. B. der konzise «Dictionary of Medieval Latin from British Sources» ausgesprochen überregionale Bedeutung, weil auch Quellen aus dem späteren Mittelalter, zum Teil noch aus dem 16. Jahrhundert, berücksichtigt wurden.

Oben: Das ein Kleidungsstück bezeichnende mittelalterliche Wort guascapum im «Glossario latino emiliano».
Unten: Die mittelalterlichen Belege für das gelehrte Wort pytisma. Das Wort war bereits in der Antike selten.

Einen Schwerpunkt im Spätmittelalter hat das achtbändige «Lexicon Latinitatis Nederlandicae Medii Aevi». Es ist ausführlich, reicht bis zum Ende des Alphabets und enthält eine Fülle an interessantem Material, so auch viele Belege aus mittelalterlichen lexikographischen Werken.

Auf spätmittelalterlichem Material basiert ferner das «Lexicon mediae et infimae Latinitatis Polonorum», das aufgrund des verwendeten Materials z. B. für spätscholastische Texte aus allen Regionen wichtig ist. Die vorläufig (2011) letzte Lieferung umfasst «Rabalipton - Sto».

Nützlich für Begriffe des Alltags, aber auch für das Vokabular von Notariatsakten sind drei Wörterbücher aus dem italienischem Bereich: das «Glossario latino emiliano» und das «Glossario latino italiano: Stato della Chiesa - Veneto, Abruzzi», beide von P. Sella, sowie das «Glossario del latino medioevale istriano» von F. Semi. Ein ähnliches Profil hat das zweibändige «Lexicon latinitatis medii aevi Iugoslaviae», das – aufgrund von sprachlich verwandtem Material – z. B. bei der Bearbeitung von spätmittelalterlichen Urkunden aus dem Veneto von Nutzen sein kann.

Gewusst welches und zu welchem Zweck: Wie bei allen Nachschlagewerken haben auch lateinisch-deutsche Wörterbücher ihr jeweils spezifisches Einsatzgebiet.

Die Anzahl und Differenziertheit von lateinischen Wörterbüchern, die in der Mediävistik sinnvoll Verwendung finden, kann sich durchwegs sehen lassen. Obwohl es sicherlich etwas Übung verlangt, ist das Verständnis lateinischer Quellen aus dem Mittelalter somit keine Hexerei, und selbst Anfängerinnen und Anfänger können unbekannte Worte oder unvertraute Wortformen auflösen, wenn sie etwas Zeit investieren und zum richtigen Nachschlagewerk greifen. Hierin liegt – das haben die letzten Seiten hoffentlich gezeigt – die grosse Herausforderung. Ein einziges Wörterbuch, welches in allen Situationen Hilfe leistet, gibt es schlichtweg nicht; es gibt nur das für den jeweiligen Text oder die jeweilige Problemstellung passende Lexikon. Nachdem Du Dich aber durch dieses Kapitel durchgearbeitet hast, kennst Du alle wichtigen Nachschlagewerke für die Arbeit mit mittelalterlichen Quellen und weisst um deren spezifische Ausrichtung und mögliche Einsatzgebiete.

Am besten gehst Du zum Übersetzen in eine grössere Bibliothek, wo mehrere der vorgestellten Werke im Präsenzbestand greifbar sind. Ist das nicht möglich, so hilft in einfachen Fällen auch das Internet weiter, so vor allem der online verfügbare «Georges» sowie der «Du Cange».