Sammlungen mit skandinavischen Handschriften

Obwohl Editionen, Faksimiles und Digitalisierung den Zugang zu den Quellen erheblich erleichtern, ist manchmal ein Blick in das Original unumgänglich.
Die westnordischen Handschriften sind heute aber in alle Welt verstreut: Der größte Teil befindet sich zwar in Kopenhagen, Stockholm und Reykjavík, aber einige befinden sich außerhalb Skandinaviens, in Europa und ganz wenige sind sogar nach Nordamerika gelangt.

Dieses Tutorium gibt Dir einen Überblick über die zahlreichen Sammlungen mit westnordischen Handschriften und ihre Geschichte. Diese beginnt mit der Handschriftenkultur Ende des Mittelalters, gefolgt von den frühneuzeitlichen Sammlern, welche die Grundsteine für die heutigen Sammlungen gelegt haben.

Makulatur: Eine von etwa 1270 stammende Handschrift der Strengleikar, einer Sammlung altnordischer Prosaübersetzungen der altfranzösischen Lais der Marie de France, wurde in späterer Zeit als Stützmaterial für eine Mitra verwendet (AM 666 b fol).

In Norwegen brach die handschriftliche Überlieferung gegen Ende des Mittelalters fast gänzlich ab; dementsprechend wenige Handschriften frühneuzeitlichen Datums sind uns heute erhalten. Wie kam es zu diesem Bruch?
Im 14. Jahrhundert blühte die Handschriftenproduktion eigentlich erst richtig auf. Aber gerade in diesem Jahrhundert fanden in Norwegen auch schwerwiegende Veränderungen statt: Viele Menschen starben infolge einer Pestepidemie, darunter zahlreiche Adelige und Geistliche, wodurch das kulturelle Leben beeinträchtigt wurde. Zudem veränderte sich die Sprache, sodass das Verstehen altnordischer Texte immer schwieriger wurde. Die wenigen handschriftlichen Quellen, welche gegen Ende des Mittelalters entstanden waren, wurden somit bereits wenige Jahrzehnte später kaum mehr gelesen. Nicht zuletzt löste im 15. Jahrhundert der Buchdruck die handschriftliche Überlieferung ab, sodass viele Handschriften nicht mehr gebraucht wurden und nunmehr zweckentfremdet als Bindematerial neuer Bücher oder ähnlichen Zwecken dienten.

Island war von diesen Entwicklungen kaum betroffen: Das Isländische veränderte sich nur geringfügig, sodass mittelalterliche Texte weiterhin verstanden wurden. Da es nur eine einzige Druckerpresse im Land auf dem Bischofssitz Hólar gab, die geistlichen Werken vorbehalten war, wurden die weltlichen Texte weiterhin handschriftlich überliefert. Die mittelalterliche Literatur wurde in Island also im Gegensatz zu Norwegen immer noch gelesen und handschriftlich überliefert.

Links: Brynjólfur Sveinsson (1605-1675)
Rechts: Þormóður Torfason (1636-1719)

Alle wichtigen skandinavischen Handschriftensammlungen suchen ihre Anfänge bei den Sammlern der frühen Neuzeit. Die Struktur und der Überlieferungszustand unserer heutigen Sammlungen können daher ohne einen Blick zurück in diese Zeit nur unzureichend verstanden werden.

Der Humanismus weckte im 16. Jahrhundert in Dänemark und Schweden das Interesse an der eigenen Geschichte und Literatur. Die zuständigen Historiographen brauchten Quellen und fanden diese vor allem in den norwegischen Handschriften aus dem Mittelalter. Sie ließen diese sammeln und übersetzen, weil sie die altnordischen Texte nicht mehr verstanden. Die Bestände in Norwegen waren aber bald erschöpft.

Gegen Ende des 16. Jahrhunderts machten die Isländer auf ihre reiche Literatur aufmerksam. Sie sammelten die Handschriften und halfen den Historiographen bei den Übersetzungen, weil sie das Altnordische besser verstanden. Zu den ersten gehörte Bischof Brynjólfur Sveinsson (1605-1675). Später arbeiteten hauptsächlich Isländer als Sammler, Abschreiber und Übersetzer in königlichem Auftrag, z. B. Þormóður Torfason (1636-1719) für Dänemark oder Jón Eggertsson (1643-1689) für Schweden. Im 17. Jahrhundert gelangten immer mehr Handschriften durch intensive Sammelaktivität, Schenkungen, Verkauf und Raub nach Dänemark und Schweden in die Sammlungen der Könige und privater Interessenten.

Árni Magnússon (1663-1730)

Der bedeutendste Handschriftensammler im nordischen Raum war der Isländer Árni Magnússon. Schon während seines Theologiestudiums in Kopenhagen arbeitete er als Assistent des königlichen Historiographen Thomas Bartholin d. J. (1659-1690), für den er Handschriften auf Auktionen kaufte, abschrieb und übersetzte. Auch nach Bartholins Tod setzte er mit der Unterstützung privater Mäzene diese Arbeit fort.

König Frederik IV. schickte ihn 1701 nach Island, um ein Grundregister für die ganze Insel zu erstellen. Diese Reise war für Árni Magnússon die ideale Gelegenheit, weitere Handschriften vor Ort zu sammeln. Er durchkämmte zahlreiche Bauernhöfe nach Handschriften und übersah selbst kleinste Fragmente nicht. Nach Abschluss dieses zehnjährigen Projektes brachte er 55 Kisten mit Handschriften nach Kopenhagen.

In den folgenden Jahren erforschte und katalogisierte er seine riesige Sammlung. Er publizierte keine Werke, hinterließ jedoch zahlreiche, noch heute wertvolle Notizen. 1728, gut ein Jahr vor seinem Tod, ereignete sich in Kopenhagen ein großer Brand. Árni Magnússon schaffte es zwar, die meisten seiner Pergamenthandschriften zu retten. Viele Papierhandschriften, Abschriften und gedrucke Werke aber gingen bei dieser Katastrophe teils unwiederbringlich verloren.

Der Árnagarður: In diesem Gebäude auf dem Gelände der Universität Island ist das Institut für Isländische Studien untergebracht; es wurde zu zu Ehren von Árni Magnússon 'Árnagarður' getauft.

Es erstaunt nach dem auf der letzten Seite Gesagten kaum, dass die nach ihrem Gründer, dem Sammler Árni Magnússon (lat. Arnas Magnæus), benannte Arnamagnæanische Sammlung die weitaus größte Sammlung nordischer Handschriften darstellt.

Kurz vor seinem Tod vermachte Árni Magnússon seine Sammlung der Universität Kopenhagen, wo sie in der Folgezeit (bis zu ihrer Teilung) als eigenständige Sammlung weiter gepflegt wurde. Sie ist in ungefähr 2500 Katalognummern gegliedert. Hinter einer solchen Nummer kann sich ein ganzer Codex oder auch nur ein einzelnes Fragment verbergen. Der größte Teil der Handschriften ist isländisch; es gibt aber auch zahlreiche norwegische. Ungefähr 500 Handschriften sind aus Pergament.

Die Signaturen haben einen speziellen Aufbau. Dazu ein Beispiel: Die Handschrift Möðruvallabók trägt die Signatur AM 132 fol. AM steht für die Arnamagnæanische Sammlung, dann folgt die Katalognummer und als letztes das Format (fol. = folio, = quarto, = octavo etc.). Dieser Aufbau war und ist auch Vorbild für die Signaturen anderer nordischer Sammlungen.

In der Arnamagnæanischen Sammlung befinden sich Handschriften fast aller bedeutenden isländischen und norwegischen Texte. Von verlorenen Handschriften existieren zum Teil auch noch Abschriften.

Die Rückkehr der Flateyjarbók und anderer wichtiger Handschriften am 21. April 1971 wurde in Island feierlich begangen.

Die Handschriften der Arnamagnæanischen Sammlung sind größtenteils isländisch. Sie stellen eines der wichtigsten Kulturgüter Islands überhaupt dar. Schon seit dem 19. Jahrhundert erhoben deshalb die Isländer Anspruch auf sie, was in Dänemark aber lange auf taube Ohren stieß. Erst nach der Gründung der Republik Island (1944) wurden die Rückforderungsbegehren erhört, und nach langen Verhandlungen beschloss das Folketing 1961, dass die Sammlung geteilt und die islandspezifischen Handschriften an Island zurückgegeben werden sollten. Dieser Entschluss betraf auch die isländischen Handschriften der Königlichen Bibliothek Kopenhagen.

Von 1971 bis 1997 wurden insgesamt 1666 Handschriften und Fragmente sowie alle Urkunden in mehreren Ladungen nach Island verschifft. Dort wurde für sie eigens eine Sammlung, die Stofnun Árna Magnússonar, als Nachfolgeinstitut von Handritastofnun Íslands, eingerichtet. Die Sammlung in Kopenhagen, Det Arnamagnæanske Institut, bestand aber weiterhin und verwaltet bis heute die skandinavienspezifischen Handschriften.
Ein besonderes Schicksal erfuhren die prominenten Handschriften Flateyjarbók (GKS 1005 fol.) und Codex Regius der Lieder-Edda (GKS 2365 4°), die Bischof Brynjólfur Sveinsson dem dänischen König Frederik III. geschenkt hatte. Da sie besonders berühmte isländische Texte enthalten, wurden sie als erste nach Island zurückgebracht. Die ursprünglichen Signaturen haben sie behalten.

Der Schwarze Diamant: Der moderne Anbau der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen.

In der Königlichen Bibliothek (Det kongelige Bibliotek, zugleich die dänische Nationalbibliothek) in Kopenhagen sind heute zwei ältere Bibliotheken vereint: Die von König Frederik III. (1648-1670) gegründete, Königliche Bibliothek und jene der Universität Kopenhagen.

Die nordischen Handschriften der Königlichen Bibliothek sind auf viele Einzelsammlungen verteilt, was sich auch in den Signaturen widerspiegelt:

Den Gamle Kongelige Samling (Signatur GKS): Sie enthält die Eingänge bis Ende des 18. Jahrhunderts. Hier befinden sich 24 bedeutende westnordische Pergamenthandschriften, da zu dieser Zeit die Sammleraktivität am stärksten war.
Den Nye Kongelige Samling (NKS): Sie enthält die Eingänge nach 1800, darunter 15 westnordische Pergamenthandschriften.
Thotts Samling (Thott): Graf Otto Thott vermacht 1785 der Bibliothek eine der größten Sammlungen inklusive nordische Handschriften.
E donatione variorum (DonVar): Hier werden kleinere Schenkungen zusammengefasst.
Die königliche Bibliothek in Stockholm.

Die Königliche Bibliothek (Det Kungliga Biblioteket) in Stockholm ist auch Schwedens Nationalbibliothek. Ihre Ursprünge gehen auf die private Bibliothek des Königs Gustav Vasa (1523-1560) zurück. Seit 1661 sammelte man hier systematisch Bücher. Auch nordische Handschriften wurden wegen ihres unschätzbaren Werts als Quellen für die schwedische Geschichte gerne erworben. Die Sammlung Islandica besteht heute aus knapp 60 Pergament- und ungefähr 225 Papierhandschriften. Sie ist damit eine der größeren Sammlungen isländischer Handschriften und enthält einige wichtige Exemplare.
Die beiden Hauptlieferanten der Sammlung waren die Isländer Guðmundur Ólafsson (ca. 1652-1695) und Jón Eggertsson (1643-1689). Letzterer sammelte vor allem für schwedische Auftraggeber und schrieb auch zahlreiche Handschriften ab. Seine Abschriften befinden sich ebenfalls in der Sammlung.

Die Signaturen werden in der Literatur uneinheitlich wiedergegeben: Für die Bibliothek steht Sth, SKB oder Holm, dann folgt meistens der Beschreibstoff: Perg. (Pergament) bzw. Papp. (Papier). Katalognummer und Format haben je nach Wiedergabe die dritte oder vierte Stelle. Dieselbe Handschrift kann also unterschiedliche Signaturen haben: zum Beispiel SKB Perg. 15 4° oder Holm Perg. 4° 15 für das Stockholmer Homilienbuch.

Þjóðarbókhlaðan: Das Gebäude der National- und Universitätsbibliothek von Island.

In der Handschriftenabteilung der Isländischen Nationalbibliothek, Landsbókasafn Íslands, befinden sich rund 15'000 Handschriften. Nur wenige davon stammen allerdings aus mittelalterlicher Zeit. Die handschriftliche Überlieferung in Island hat jedoch bis ins 20. Jahrhundert angedauert, sodass die Sammlung besonders reich an neuzeitlichen Papierhandschriften ist.

Ein Teil der Handschriften stammt aus privaten Sammlungen, beispielsweise jener des isländischen Philologen und Politikers Jón Sigurðsson (Signatur JS) oder des Handritasafn Hins Íslenska Bókmenntafélags (ÍB und ÍBR). Die übrigen Handschriften sind unter der Signatur Lbs katalogisiert. Die Handschriftenabteilung erhält laufend Neuzugänge, da noch immer nicht alle Handschriften gefunden bzw. der Bibliothek übergeben worden sind: im letzten Jahrzehnt waren es ungefähr 700.

Die Carolina Rediviva: Die Hauptbibliothek der Universität Uppsala, in deren Museum man bedeutende Handschriften anschauen kann.

Es gab während der intensiven Sammelaktivität im 17. und 18. Jahrhundert in Skandinavien nur drei Universitäten, und zwar in Uppsala, Kopenhagen und Lund. Das erklärt auch, warum sich hier die ältesten universitären Handschriftensammlungen befinden.

Die Universität Uppsala (gegründet 1477) besitzt als älteste Universität Skandinaviens eine ansehnliche Sammlung nordischer Handschriften. Die C-Sammlung (Signatur UppsUB C) umfasst vor allem lateinische und schwedische Handschriften, aber auch ein paar wenige norwegische. Die viel kleinere Delagardieska samlingen (DG), ein Geschenk des schwedischen Adeligen Magnus Gabriel de la Gardie (1622-1686), verfügt dagegen über einen grossen westnordischen Sammlungsteil mit prominenten Handschriften. De la Gardie sammelte Handschriften und kaufte unter anderem die Sammlung des dänischen Gelehrten Stephan Hansen Stephanius (1599-1650), in der sich eine Handschrift (DG 11) der Snorra-Edda, der so genannte Codex Upsaliensis befindet.

Die Sammlung der zweitältesten skandinavischen Universität Kopenhagen (gegründet 1479) wurde beim Brand von 1728 völlig zerstört. Dadurch wurden viele bedeutende nordische Handschriften unwiederbringlich vernichtet.

Lund verfügt, wie die jüngeren Universitäten Bergen, Oslo und Trondheim, über eine relativ kleine Sammlung.

Das Riksarkivet Oslo.

Neben den Bibliotheken bewahren auch Archive Handschriften und vor allem Urkunden auf.

Im Riksarkivet in Oslo (Signatur NRA) werden die staatlichen Dokumente Norwegens aufbewahrt, wozu auch unzählige mittelalterliche Urkunden gehören. Die Sammlung setzt sich aus verschiedenen Einzelsammlungen zusammen: Ein Teil stammt beispielsweise aus der Arnamagnæanischen Sammlung (AM dipl norv), der 1937 mit drei weiteren Pergamenthandschriften nach Oslo überführt wurde. Viele norwegische Dokumente aus Dänemark waren bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts überführt worden. Die sogenannte München-Sammlung enthält norwegische Urkunden, die über verschlungene Wege nach München gelangt waren und 1830 wieder an Norwegen zurückgegeben wurden.

Das isländische Nationalarchiv, Þjóðskjalasafn Íslands(Sign. Þjskjs) besteht seit 1882. Als Island 1918 selbständig wurde, forderte es die im früheren Mutterland Dänemark verwahrten Urkunden zurück. Ein Teil davon wurde 1928 überführt. Bereits in den Jahren 1802–1921 wurden einige Urkunden – zum Teil aus der Arnamagnæanischen Sammlung (AM dipl isl) – nach Island zurückgebracht.

Die British Library: Ihre Sammlung altnordischer Manuskripte ist die größte außerhalb Skandinaviens, auch wenn diese Sammlung – gemessen am Gesamtbestand von über 25 Millionen Werken – nur einen verschwindend kleinen Anteil ausmacht.

Ein kleiner Anteil der westnordischen Handschriften befindet sich in Sammlungen außerhalb Skandinaviens: Die British Library besitzt die größte dieser Sammlungen, was englischen und isländischen Sammlern aus dem 18. Jahrhundert zu verdanken ist. Weitere Sammlungen auf den Britischen Inseln befinden sich in Dublin, Edinburgh und Manchester. Auf dem Kontinent gibt es zusätzlich Sammlungen in Wien, Tübingen, Utrecht und Wolfenbüttel.

Überraschend ist vielleicht, dass es sogar einige Handschriften in die neue Welt geschafft haben: Eine große isländische Sammlung, die Fiske Icelandic Collection, besitzt die Cornell University in Ithaca NY, welche durch die Sammelaktivität des Professors Daniel Williard Fiske (1831–1904) und seines früheren Assistenten und des späteren Kurators der Sammlung, des Isländers Halldór Hermannsson, zustande gekommen ist. Einzelne Handschriften sind noch in Yale und in Washington zu finden.

Diese außerskandinavischen Sammlungen enthalten neben wenigen Pergamenthandschriften hauptsächlich Papierhandschriften, welche oft neuzeitliche Abschriften verloren gegangener Texte enthalten. Der Codex Trajectinus (Utrecht 1374) ist beispielsweise eine Abschrift einer verlorenen gegangenen Snorra-Edda-Handschrift aus dem 16. Jahrhundert.

Handschriftendepot im Keller des Árnagarður.

Dieses Tutorium hat Dir einen Überblick gegeben, wo sich die westnordischen Handschriften heute befinden und erklärt, wie sie dorthin gelangt sind und wie die Sammlungen entstanden sind.

In der Forschungsliteratur werden oft nur die Signaturen angegeben, sodass es hilfreich ist, die wichtigsten zu kennen, um den Aufbewahrungsort einer Handschrift lokalisieren zu können. Die Geschichte der Sammlung ist ebenfalls relevant, da oft ältere Signaturen beibehalten werden, auch wenn die Handschrift heute an anderer Stelle aufbewahrt wird.

Einen vollständigen Überblick über die westnordischen Handschriften und deren Sammlungen sowie Signaturen gibt beispielsweise der in den Ressourcen aufgeführte Registerband des Ordbog over det norrøne Prosasprog.