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Film und Geschichtswissenschaft

Ein Pionier der Filmtheorie und -geschichte war Siegfried Kracauer, der mit seinem Buch From Caligari to Hitler eine psychologische Geschichte des Deutschen Films schrieb, welche eine Generation von Filmhistoriker*innen prägte. Quelle: Wikimedia Commons [Stand: 10.05.2021].

Die Debatte um den wissenschaftlichen Wert von Filmen als historische Quellen ist so alt wie die bewegten Bilder selbst. Es ist dabei bemerkenswert, dass sie über den grössten Teil des 20. Jahrhunderts vor allem von einer gewissen »Ikonophobie« unter Historiker*innen geprägt war. Umso mehr erstaunt dies angesichts der Tatsache, dass vor allem die Bildmedien Film und Fernsehen spätestens seit den 1960er-Jahren weltweit die führenden Leitmedien darstellen. Zwar wiesen viele Forscher*innen im Verlauf 20. Jahrhunderts auf den Quellenwert von Film hin, wie etwa Siegfried Kracauer, der in den 1940er-Jahren argumentierte, dass Filme als mentalitätshistorische Quelle einzigartige Rückschlüsse auf Zeitgeist und kollektives Bewusstsein ermöglichen. Trotzdem blieben Bildquellen im Allgemeinen und bewegte Bilder im Besonderen als Quellen lange marginalisiert. Sie wurden oft nur als sekundäre Quellen zur Ergänzung und Illustration schriftlicher Quellen betrachtet. Dieser textliche Bias der Geschichtswissenschaft ist einerseits ein Erbe des Historismus und seiner Privilegierung schriftlicher Zeitdokumente, andererseits aber auch ein Resultat des oft erschwerten Zugangs zu historischem Bildmaterial, der Schwierigkeit, den affektiven und ästhetischen Qualitäten des Mediums Ausdruck zu verschaffen, und vor allem einer mangelnden historischen Methodologie der Quellenkritik im Umgang mit Film und Videodokumenten.

In den 1990er-Jahren fand in den Kulturwissenschaften eine verstärkte Zuwendung zum Bild als Forschungsgegenstand statt, die der politischen, sozialen und kulturellen Zentralität von Bildern im 20. Jahrhundert Rechnung trug. Diese Entwicklung wurde unter Begriffen wie pictorial turn, iconic turn, und visual turn beschrieben. Dabei bleibt die Auseinandersetzung mit Bildern nicht auf die visuellen Objekte an sich beschränkt, sondern beschäftigt sich zunehmend auch mit deren Bedeutung als Medien, in denen Politik, Identitäten, soziale Beziehungsweisen, Ideologie, Begehren und Ängste gesellschaftlich vermittelt und konstruiert werden. Bilder, und die Art, wie sie Wahrnehmung strukturieren, werden also nicht nur als passive Abbildungen der Welt, sondern als gesellschaftlich wirkungsmächtig betrachtet. Die davon ausgehenden Impulse wurden auch von der Geschichtswissenschaft aufgegriffen, was in den letzten Jahrzehnten zur Etablierung der Visual History als Forschungsfeld führte. Ausgehend davon, dass Bildmedien und die damit zusammenhängenden Sehweisen die Beziehung zwischen historischen Subjekten und der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die sie umgibt, prägend mitorganisieren, rücken hier Bildquellen ins Zentrum der Analyse. Die Bilder werden nicht länger nur als Dokumentationen dessen, was sie abbilden interpretiert, sondern auch als historisch wirkungsmächtige Bildakte und Träger von kollektiver Realitätswahrnehmung und Geschichtserfahrung. Dabei werden Bildquellen möglichst ganzheitlich analysiert, also sowohl in Bezug auf den eigentlichen Bildinhalt, wie auch auf die ästhetische Struktur, durch welche der Inhalt vermittelt wird, die Bezüge auf bestehende bildsprachliche Traditionen, die Technologie und Medialität mittels derer die Bilder überhaupt erst entstehen und verbreitet werden können, die Produktionsbedingungen, der gesellschaftliche Kontext der Produktion und Konsumtion der Bilder, die Rezeption, usw. Während die Konzepte der Visual History auf alle Bildmedien angewandt werden können, bleibt zu erwähnen, dass der Fokus der Forschung in diesem Feld bisher stark auf dem stehenden Bild , hier vor allem der Fotografie, und weniger auf den bewegten Bildern lag.

Diese Szene aus The Battle of the Somme zählen zu den bekanntesten Kampfaufnahmen aus dem Ersten Weltkrieg. Seit der Film 1916 erstmals der britischen Öffentlichkeit gezeigt wurde, gilt er als eine der authentischsten historischen Darstellungen der "Realität des Krieges". Tatsächlich wurde diese Szene aber bereits vor der Schlacht aufgenommen und ist komplett gestellt. Ausschnitt (30:10 – 30:40) aus: Malins, Geoffrey; John McDowell: The Battle of the Somme, 1916. Online: Wikimedia Commons [Stand: 11.05.2021].

Die Realitätsnähe von fotomechanisch und elektronisch produzierten bewegten Bildern verleitet dazu, Film- und Videodokumenten eine besondere Authentizität als die vormediale historische Wirklichkeit »so wie sie war« widerspiegelnde Quellen zuzuschreiben. Bei der historischen Arbeit mit Film und Video gilt es dieser Versuchung zu widerstehen. Bewegte Bilder sind niemals eine objektive und unvermittelte Abbildung von Realität. Ihnen unterliegt eine ganze Reihe von perspektivierenden und formgebenden Entscheidungen, die ein selektives und konstruiertes Bild der gefilmten Wirklichkeit erzeugen. Das fängt mit der Entscheidung an, was gefilmt wird und was nicht. Darüber hinaus wird das gefilmte Geschehen durch filmspezifische Gestaltungsmittel wie Einstellungsgrösse, Kameraperspektive, Musik, Kommentar, Schnitt und Montage vermittelt. Dabei müssen immer die technischen Möglichkeiten der Aufnahme und Bildbearbeitungstechnik, die zur Verfügung standen, mitgedacht werden. Zudem wurden auch in dokumentarischen Bildern und Nachrichtenfilmen oft nicht die dargestellten Ereignisse selbst gefilmt, sondern nachgestellte Szenen. Was man also schlussendlich auf der Leinwand oder dem Bildschirm zu sehen bekommt, ist nicht einfach dokumentierte Wirklichkeit, sondern eine konstruierte und mehr oder weniger durchkomponierte Sichtweise darauf.

Film kam nicht nur als Unterhaltungsmedium zum Einsatz. Ein etwas kurioses Beispiel für die vielseitige Verwendung des Mediums ist diese Form des Schiesstrainings der Zürcher Stadtpolizei. Schweizer Filmwochenschau, Schiessen im Kino gestattet (1435-3), 27.11.1970, Schweizerisches Bundesarchiv Filmbestand Schweizer Filmwochenschau (1940-1975) J2.143#1996/386#1474-1#1*, Online: Memobase  [Stand 11.05 2021]. 

Bild- und Videoquellen zeichnen sich durch ihre grosse Vielfältigkeit aus. Werbefilm, Dokumentarfilm, Bildungsfilm, Spielfilm, Amateurfilm, Nachrichtenfilm, Bewegungsfilm, Propagandafilm, Industriefilm, Musikvideos, Tic-Toc Clips, Videokunst etc. zeichnen sich alle durch eigene spezifische Eigenschaften, Intentionen und Traditionen von Bildsprache aus. Sie sind jeweils für verschiedene Fragestellungen aufschlussreich und erfordern spezifische Herangehensweisen an die Quellenkritik. Der Quellenwert der Filme ist dabei nicht direkt an den empirischen Inhalt geknüpft, das heisst, dass zum Beispiel ein Werbefilm über Haushaltsgeräte genauso viel über Geschlechterbilder einer Epoche sagen kann wie über die Verwendung von Haushaltsgeräten als Teil der materiellen Kultur der gleichen Epoche. Gleichzeitig sagt ein Film wie David W.Griffiths The Birth of a Nation von 1915 mehr über den Rassismus in den USA des frühen 20. Jahrhunderts aus, als über die historische Realität des amerikanischen Bürgerkrieges, die er darzustellen vorgibt.

Die Fernsehübertragung der Mondlandung war ein mediales Grossereignis, die Bilder galten schon während ihrer Ausstrahlung als ikonisch und brannten sich in das kollektive Gedächtnis der Welt ein. 50% der Fernseher weltweit waren zugeschaltet, was US-Präsident Nixon eine audiovisuelle Propagandabühne bisher unbekannten Ausmasses bot. Hier telefoniert der Präsident mit der Apollo 11 Crew. Nasa: President Nixon telephones the Apollo 11 crew on the moon, 21.07.1969, Online: Wikimedia Commons [Stand: 11.05.2021].

Die Vielfältigkeit von bewegten Bildern als Quellengattung macht sie zu fruchtbaren Quellen für eine beliebig verlängerbare Liste von Fragestellungen. Bewegte Bilder können für praktisch alle Fragestellungen zum 20. Jahrhundert eine wichtige Quelle sein. Hier sollten lediglich einige Anstösse gegeben werden. Bewegte Bilder sind wichtige Bestandteile der Medien- und Technikgeschichte, die auch nach der historischen Rolle verschiedener Medientechnologien und deren Speicherungs- beziehungsweise Wiedergabemethoden in gesellschaftlichen Kommunikations- und Informationsflüssen fragt. Mittels Film- und Videoquellen können auch historische Sehweisen, visuelle Darstellungsformen und kollektive Wahrnehmungen rekonstruiert werden, was wiederum Schlüsse über die sich wandelnde gesellschaftliche Funktion von Bildern zulässt. Gerade in der politisch-sozialen Kommunikationsgeschichte kann Filmmaterial Aufschluss geben über die visuelle Produktion von Macht, Nation, Politik, Identität und Ideologie. Damit verbunden ist das kollektive Gedächtnis und Geschichtsbewusstsein, die ebenfalls stark verbunden sind mit visuellen Erinnerungskulturen und ikonischen Bildern, die über filmische Medien vermittelt werden. Auch für die Mentalitätsgeschichte und die Erforschung historischer Alltagspraktiken und materieller Kulturen der Vergangenheit sind bewegte Bilder wichtige Quellen.

Poster für D.W.. Griffith's The Birth of a Nation Quelle: Online: Wikimedia Commons [Stand 22.05.2021].

Die Visual History ist geprägt von der Vorstellung, dass Bilder nicht nur Reflexe oder Repräsentation von Wirklichkeit sind, sondern diese auch aktiv beeinflussen und zu einem gewissen Masse erzeugen. Bilder werden also einerseits als Abbildungen, andererseits aber auch als Bildakte verstanden, die Veränderungen in der politischen und sozialen Öffentlichkeit erzeugen können, indem sie Einstellungen, Mentalitäten, Geschichtsbilder etc. erzeugen und so auch das Handeln historischer Akteure beeinflussen. Ein bekanntes Beispiel dafür aus der frühen Filmgeschichte ist David W. Griffiths bereits erwähnter Film The Birth of a Nation von 1915. Der Film war ein Pionierwerk der modernen Filmsprache, ein kommerzieller Grosserfolg und der erste Film, der im Weissen Haus gezeigt wurde. Der Film hatte weitgehende politische Konsequenzen, einerseits provozierte die darin enthaltene Glorifizierung des Ku-Klux-Klans und die rassistische Darstellung von Afroamerikaner*innen landesweite Proteste gegen den Film, andererseits gilt The Birth of a Nation auch als einer der Hauptfaktoren, der zur Wiedergründung des Klans nur einige Monate nach der Veröffentlichung führte. Die Produzent*innen von Film und Videodokumenten zielten oft auf eine aktive Wirkung ihrer Bilder in der Wirklichkeit ab. So versprach sich etwa der Bundesrat von der Schweizer Filmwochenschau eine Stärkung des nationalen Bewusstseins der Bevölkerung. Und auch die Videoaktivist*innen der 1970er- und 1980er-Jahre zielten mit ihren bewegten Bildern auf die Eröffnung eines Raumes der Gegenöffentlichkeit ab, die wiederum politisch auf die sozialen Bewegungen einwirken sollte.

Bislang hat sich keine allgemeine geschichtswissenschaftliche Methodik zum Umgang mit Filmbildern herauskristallisiert. Es existiert auch kein Handbuch zum historischen Umgang mit Film- und Videoquellen. Die Ähnlichkeit bewegter Bilder zu unserer natürlichen audiovisuellen Wahrnehmung täuscht leicht über die Komplexität des Bildaufbaus hinweg. Um diese Komplexität freizulegen, braucht es daher eine Kombination verschiedener methodologischer Ansätze aus anderen Disziplinen mit den traditionellen Instrumenten der Quellenkritik. Film- und Videoquellen enthalten durch die sich ständig verändernden Bildinformationen zusammen mit Musik, Narration und O-Ton eine sehr hohe Dichte an Information und potenziellen Bedeutungen. Um die Dynamik der Bedeutungskonstruktion dieser dichten Zeichennetze in Bild und Ton zu verstehen, sind zum Beispiel ikonografische Grundkenntnisse so wie ein Verständnis des Repertoires der filmischen Formensprache und Gestaltungsmittel von Bedeutung. Ebenfalls wichtig ist eine Kenntnis der technischen Produktionsbedingungen und der materiellen Eigenschaften verschiedener medialer Träger von bewegten Bildern. Gerade weil Film- und Videobänder sehr vergängliche Medien sind, die sich oft durch eine komplexe Überlieferungsgeschichte von Kopiegenerationen und Medientransfers auszeichnen, welche jeweils auch die Bildinhalte verändern, sind solche Kenntnisse sehr wichtig, um die vorliegenden Bilder zum historischen Original in ein Verhältnis zu setzen.

Je nach Fragestellungen gibt es verschiedene methodologische Herangehensweisen an die Analyse von Bildern. Von der Zeichentheorie beeinflusste semiotische Ansätze analysieren die Bilder als Zeichensysteme, die es zu decodieren gilt, um die von ihnen produzierten Sinnstrukturen freizulegen. Hier wird der Film sozusagen als Text verstanden, den es zu lesen gilt und Filmsprache als eigenes Kommunikationssystem. Damit verwandt sind ikonografische Betrachtungsweisen, die sich ebenfalls auf die symbolischen und kompositionellen Eigenschaften der jeweiligen Bilder konzentrieren. Was dabei zu kurz kommt sind die den Filmbildern selbst äusserlichen Faktoren, wie etwa Produktions- und Distributionsbedingungen sowie Produktionsweise, Finanzierung, Medialität, Rezeption, gesellschaftlicher Kontext und Funktion der Bilder. Für diese Aspekte können andere Herangehensweisen beigezogen werden, die nach der sozialen Praxis von Bildproduktion und deren gesellschaftlichen Zusammenhängen fragen und die Bilder selbst, ihre kommunikativen Bedeutungen, ihre Rezeption und gesellschaftliche Funktion in ihrer historischen Bedingtheit erfassen. Rezeptionsästhetische Ansätze befassen sich zudem mit der Frage, inwiefern die Deutung und Bedeutung von Bildern nicht nur vom Bildinhalt selbst, sondern auch vom Prozess der Rezeption abhängig sind, und spricht so den Konsument*innen der Bilder eine wichtige Rolle in der bildlichen Bedeutungskonstruktion zu. Für Filmquellen empfiehlt sich in den meisten Fällen eine flexible Kombination verschiedener Ansätze.

Eine korrekte Zitierweise ist für die historische Arbeit mit Filmen unerlässlich. Wenn du nicht mit dem Original gearbeitet hast, solltest du in der Bibliografie die gesichtete Kopie angeben, und das Original (soweit bekannt) in eckigen Klammern dahinter stellen. Neben dem Titel, dem Namen des Urhebers oder der Urheberin, Produktionsfirma, Ort und Jahr solltest du auch das Format angeben (z.B. 16mm, 35mm, VHS oder DVD). Bei Film sollte klar sein, ob es sich um einen Stumm- oder Tonfilm handelt, ob der Film in Schwarzweiss oder Farbe ist. Dazu kommen Sprache und Länge in Meter sowie Laufzeit in Stunden und Minuten (bei Videoformaten entfällt die Länge). Hier zwei Beispiele, einmal für einen Dokumentarfilm und einmal für einen Spielfilm:
 
Richter, Hans: Die Geburt der Farbe, Produktion: Tonfilm Frobenius, Basel-Münchenstein 1939, 16mm [35 mm], s/w + Farbe, Ton, deutsch, 320 m, 66 cm, 25'.
 
Godard, Jean-Luc: Opération béton / Operation Beton / Operation Concrete, Produktion: Actua Films, Genf 1954, 35 mm, s/w, Ton, französisch, 456 m, 16'40''.


Videos aus dem Internet kannst du analog zum unten aufgeführten Beispiel in die Bibliografie aufnehmen:
 
British Film Institute; The Derby (1913). Emily Davison trampled by King’s horse, auf Youtube gestellt 30.5.2013, <https://www.youtube.com/watch?v=um9GV6_AILM>, Stand: 03.12.2020.
 

Genauere Infos zur Zitierweise von Film findest im Geschichtskompass des Historischen Seminars der Universität Zürich.