Auswirkungen der Apokope: Kasusabbau - Numerusausbau

Die Lautveränderungen während der Epoche des Frühneuhochdeutschen haben das deutschsprachige Gebiet nicht überall im selben Ausmass erfasst und die Durchführung ist ausschlaggebend für die dialektale Grobgliederung des Deutschen. Einige dieser Entwicklungen sind durch den landschaftlichen Einigungsprozess aber in die nhd. Standardsprache eingegangen. Lautliche, morphologische, lexikalische oder syntaktische Merkmale, die nicht Teil der Standardsprache werden, bleiben dadurch landschaftlich gebunden und werden zu dialektalen Kennzeichen. Der Unterschied zwischen alemannischen und bairischen Dialekten beruht auf der Bewahrung bzw. Veränderung der mhd. Langvokale î, û und iu /ü:/. Die Entrundung der Umlautvokale ö, ü, üe zu e, i, ie ist kennzeichnend für Teile des Alemannischen, Bairischen und Mitteldeutschen, wird aber kein Kennzeichen der Standardsprache.

Die Verbreitung der Diphthongierung am Beispiel Haus - Hus.

Dieser lautliche Wandel erfasst die mittelhochdeutschen Langvokale î, û, iu /i:, u:, ü:/ und verändert sie zu den Diphthongen /ei, au, äu/:
mhd. mîn tiuriu sû > nhd. meine teure Sau.
Die ersten schriftlichen Reflexe der Diphthongierung finden sich im 12. Jahrhundert in Kärntner und Südtiroler Urkunden. Die Digraphien verbreiten sich bis zum 16. Jahrhundert auch im Fränkischen, Schwäbischen und im Mitteldeutschen und gehen später auch in die Standardsprache ein. Das Alemannische geht hier jedoch eigene Wege: In der gesprochenen Sprache bewahrt es die mhd. Langvokale; ab dem 17. Jahrhundert werden die Diphthonge dann aber auch im Alemannischen vermehrt geschrieben. Dieser neu entwickelte Diphthong ei wie in mein, Weib fällt in der Standardsprache mit dem alten Diphthong eiwie in leid, Geiss zusammen. In den Dialekten werden diese beiden Laute vielfach noch unterschieden, da sich auch der alte Diphthong ei weiterentwickelt hat:

mhd. î in wîz mhd. ei in (ich) weiz
alemannisch wiis weiss
bairisch wais woass
schwäbisch weis woiss

Die Verbreitung der Monophthongierung am Beispiel Bruder - Brueder etc.

Der Diphthongierung entgegengesetzt ist die Entwicklung von Monophthongen. Dieser lautliche Wandel erfasst die mhd. Diphthonge /ie, ue, üe/ und verändert sie zu den Langvokalen /i:, u:, ü:/:
mhd. liebe guote brüeder > nhd. liebe [li:bə] gute Brüder.

Dieser Wandel erfolgt seit ca. 1100 im westmitteldeutschen und ostfränkischen Sprachgebiet und breitet sich auf das Ostmitteldeutsche aus. Als lautliche Erscheinung bleibt die Monophthongierung auf diesen Sprachraum beschränkt. Diese monophthongierten, ursprünglich mitteldeutschen Formen werden Teil der Standardsprache. Die oberdeutschen Dialekte führen die Monophthongierung nicht durch; die Diphthonge bleiben in diesem Raum erhalten.
Im Schriftbild ist dieser Wandel allerdings schwieriger nachzuzeichnen: Das e in den Beispielen lieb, Krieg, schiebenwird auch noch im Neuhochdeutschen geschrieben. Es hat zwar keinen Lautwert mehr, hat sich aber nach der Monophthongierung zum Längenzeichen nach i entwickelt.

In mhd. Zeit verändert sich unter bestimmten Bedingungen auch die Länge von Vokalen. Mhd. kurze Vokale in offener Silbe werden ca. seit dem 12. Jahrhundert gedehnt, d.h. die Vokallänge nimmt zu wie mhd. nĕ-men > nhd. ne:-men(nehmen), mhd. bĭ-ber > nhd. Bi:-ber (Bieber).

Teilweise kommt es zu analogen Dehnungen, v. a. in Paradigmen. Der gedehnte Vokal in mehrsilbigen Flexionsformen wird auf die einsilbige Grundform übertragen: Bei mhd. ta:-ges, ta:-ge steht der Vokal im Genitiv und Dativ in offener Silbe, daher wird er gedehnt. Der Nominativ mhd. tăk steht in geschlossener Silbe, daher wird a nicht gedehnt. Im Nhd. zeigen dann beide Formen Langvokal nhd. Ta:g und Ta:ges. Die Dehnung unterbleibt vor /t/ und meist vor /m/: mhd. hĭmel > nhd. Hĭmmel, mhd. găte> nhd. Gătte. Die Dehnung ist zwar in die deutsche Schriftsprache eingegangen, es gibt aber kein Dialektgebiet, das die Dehnung genau so aufweist wie die Schriftsprache. Grosse Teile des Alemannischen bewahren die Kürze sogar.

Demgegenüber kommt es auch zu Vokalkürzungen: mhd. lange Vokale werden in geschlossenen Silben (v. a. vor Doppelkonsonanz und Konsonantenverbindungen) sowie in Wörtern mit den Suffixen -er, -el, -en seit dem 12. Jahrhundert gekürzt, d.h. die Vokallänge nimmt ab, so in mhd. da:hte > nhd. dăchte, mhd. le:rche > nhd. Lĕrche, mhd. ja:mer > nhd. Jămmer.

Die Silbenstruktur im MHD und NHD:

Dehnung MHD
Veränderung der Silbe:
NHD
nĕ men
Vokal kurz
V Tonsilbe 1 Einheit
>ne: men
> Vokal lang
> V V Tonsilbe 2 Einheiten
Kürzung MHD
Veränderung der Silbe:
NHD
da:h te
Vokal lang
VVK Tonsilbe 3 Einheiten
> dah te
> Vokal kurz
> V K Tonsilbe 2 Einheiten

Durch die Dehnung und Kürzung wird die Silbenstruktur im Deutschen auf Silben mit 2 Einheiten reduziert.

Die konsequente Weiterführung der Nebensilbenabschwächung sind die Apokope und Synkope:
Apokope ist der Ausfall von unbetontem e am Wortende, z.B. mhd. herze > nhd. Herz, mhd. -liche > nhd. -lich. Sie tritt seit dem 12. Jahrhundert zuerst in bairischen Quellen auf und hat den gesamten oberdeutschen und weite Teile des mitteldeutschen Sprachraums erfasst; sie ist auch in die Druckersprache eingegangen. Ab dem 17. Jahrhundert wurde die Apokope in der Schriftsprache teilweise wieder rückgängig gemacht, d.h. das auslautende e wurde wieder geschrieben. In den oberdeutschen Dialekten fällt unbetontes e am Wortende in der Regel aus (ich mach; Köpf; müed); v. a. im Ostmitteldeutschen erhält sich demgegenüber auslautendes e. In die Standardsprache sind v. a. die Formen mit erhaltenem e eingegangen bzw. es wurden bestimmte Flexionskategorien durch Wiedereinführung des -e deutlich markiert (1. P. Sing. Präs.: ich mache; Plural: Köpfe; Adjektivflexion: müde).
Synkope ist der Ausfall von unbetontem e in den Nebensilben, z.B. mhd. geloube > nhd. Glaube, mhd. nemet 2. P. Pl. > nhd. nehmt. Sie tritt ebenfalls seit dem 12. Jahrhundert in bairischen Quellen auf und hat den gesamten oberdeutschen Sprachraum erfasst, z.B. fällt in den Vorsilben ge- und be- das e systematisch aus. In die nhd. Standardsprache sind nur wenige synkopierte Formen eingegangen, v.a. in der Verbindung gl- wie Glaube < mhd. geloube oder Glück < mhd. gelücke.

Apokope
ahd. herza
          ↓ Nebensilbenabschwächung
mhd. herze
          ↓ Apokope
nhd. Herz
Synkope
ahd. gisungan
           ↓ Nebensilbenabschwächung
mhd. gesungen
           ↓                ↓ Synkope
nhd. gesungen  -  gsunge, gsungn
         Standard       Dialekte

Während die Synkope ein rein lautliches Phänomen ist, hat die Apokope auch Auswirkungen auf die Flexionsformen des Deutschen. Die Verteilung von -e und apokopiertem -ebetrifft verschiedene Formen des Nomens und des Verbs. Während die Endungen im Ahd. noch relativ differenziert sind, erreichen sie durch die Nebensilbenabschwächung einen ersten Abbau (mhd. Paradigma), welcher durch die Apokope noch verstärkt wird. Beim frühnhd. Paradigma 2 von tag mit apokopierten Formen ist einzig der Genitiv Singular noch klar erkennbar. Ansonsten sind die verschiedenen Kasusformen im Singular und Plural formengleich. Die Kasusunterscheidung direkt am Substantiv wird abgebaut.
Im Frühnhd. kommt es zu folgenden «Reparatur»-Prozessen:
Die Kategorie Kasus (Fall) wird durch die Artikel ausgedrückt. Die Kategorie Numerus (Zahl) wird durch die Ausdehnung von Pluralsuffixen wie -er verstärkt. Darüber hinaus wird das apokopierte -e teilweise wieder eingeführt und zur Markierung des Plurals verwendet (nhd. Paradigma). Daneben wird der Umlaut verstärkt als Pluralzeichen eingesetzt.

Paradigma von Tag vom AHD zum NHD:
Im Frühnhd. Paradigma 2 sind durch e-Apokope die Formen im Paradigma bis auf den Genitiv Singular identisch. Oberdeutsch wird durch die Übernahme des Umlauts der Plural wieder deutlich gekennzeichnet.
In der nhd. Schriftsprache werden die Apokope sowie der Umlaut wieder rückgängig gemacht.

Ahd. Mhd. Frühnhd. 1 Frühnhd. 2:
apokopierte Formen
Paradigma mit Umlaut, v.a. in oberdt. Dialekten Nhd.
tag
tages
tage
tag
tac
tages
tage
tac
tag
tages
tage
tag
tag
tags
tag
tag
tag
tags
tag
tag
Tag
Tages
Tag
Tag
taga
tago
tagum
taga
tage
tage
tagen
tage
tage
tage
tagen
tage
tag
tag
tag
tag
täg
täg
täg
täg
Tage
Tage
Tagen
Tage

Mhd. üe und entrundete Varianten ie, ia, i, ei etc. im Wort müde.

Entrundung
In einem grossen Teil des hochdeutschen Sprachraumes (bairisch, teilweise alemannisch und mitteldeutsch) werden statt der Umlaute ö, öu, ü, üe entrundete Vokale e, ai, i, ie gesprochen und in frühnhd. Zeit vielfach auch geschrieben. Formen wie mide (müde), virst (Fürst) oder bes (böse) sind häufig. Durch diesen Wandel stehen Formen wie Hut und Plural Hite, gross und kompariertes gresser in einem Paradigma nebeneinander. In der Schreibung bzw. der Standardsprache setzen sich jedoch die Umlautgraphien durch. Dies entspricht dem Stammkonstanzprinzip: konstante Schreibung (u-ü, o-ö usw.) für gleiche Inhalte. Nur wenige entrundete Formen sind in die Schriftsprache eingegangen: u. a. Kissen < mhd. küssen, Pilz < mhd. bülez, spritzen < mhd. sprützen.

Senkung
Unter Senkung versteht man den Artikulationswandel von hohen zu tieferen Vokalen: Im Deutschen betrifft dies v. a. mhd. u und ü, die zu o und ö werden. In Schriftzeugnissen ist dieses Phänomen zuerst im Mitteldeutschen erkennbar und typisch für diese Sprachlandschaft. Im Frühnhd. stehen sich daher oberdt. sune - mitteldt. sone, oberdt. künig - mitteldt. könig oder oberdt. sunst - mitteldt. sonst gegenüber. In die Schriftsprache gehen viele dieser gesenkten Schreibungen insbesondere vor n ein. In Luthers Schreibgebrauch kann man den Übergang von u zu o-Formen beobachten: Während er zu Beginn beide verwendet, benutzt er in späteren Werken häufiger die o-Formen.

Die Grossschreibung ist ein spezifisch deutsches Phänomen:
«Großbuchstaben (Majuskeln) sind eine Zusatzmarkierung ohne lautliche Entsprechung» (Damaris Nübling).
Am Anfang steht die graphische Textgliederung mit grossen Initialbuchstaben, die den Textbeginn hervorheben soll (textuales Prinzip). Diese Hervorhebung wird dann auch auf Absatz- oder Strophenanfänge übertragen.
Da Textbeginn in der Regel mit Satzbeginn identisch ist, ist der Schritt zur Grossschreibung von Satzanfängen der nächste. Dadurch werden syntaktische Einheiten graphisch hervorgehoben (syntaktisches Prinzip).
Neben der Kennzeichnung des Satzanfanges setzt im 15. Jahrhundert die Grossschreibung von Substantiven ein. Hier zeigen sich jedoch Unterschiede, wenn man die Substantive in Eigennamen und Appellative einteilt (semantisch-lexikalisches Prinzip): Vorreiter sind die Eigennamen, die ab 1560 fast durchgängig gross erscheinen. Innerhalb der Appellative gibt es Unterschiede zwischen Nomina Sacra(Gott, Herr), Personenbezeichnungen (Mann, Frau), Konkreta (Dorf, Kuh) und Abstrakta (Friede, Liebe), welche das Schlusslicht bilden und erst ab 1680 gross geschrieben werden.
Im 17. Jahrhundert kommt es zeitweise zu Binnen-Grossschreibungen (MelckKnecht, HausVater), die heute wieder speziell in der Werbung genutzt wird (PostShop, BordRestaurant), und zu Bindestrich-Schreibungen (Lebens=Mitteln), die heute bei der Schreibung von Zusammensetzungen verwendet werden kann (Lotto-Annahmestelle).

Die Entwicklung der Grossschreibung unter Beachtung des textualen, syntaktischen und semantisch-lexikalischen Prinzips:

800 textuales Prinzip
    Textbeginn, Versanfänge
syntaktisches Prinzip
    Satzanfänge
1500


1600

seit
semantisch-lexikalisches Prinzip
    Eigennamen
    Nomina Sacra
    Personenbezeichnungen
    Konkreta
    Abstrakta
1700 Grossschreibung aller Substantive
AHD:
Tatian (Cod. Sang. 56, S. 32, Stiftsbibliothek St. Gallen/Codices Electronici Sangallenses):
Punkt jeweils am Ende einer Zeile.

MHD:
Nibelungenhandschrift C, zweites Viertel 13. Jh. (Codex Donaueschingen 63, fol. 2v, Badische Landesbibliothek, pag. 2v):
Punkt.


FND:
Lutherbibel 1582 (Druck; Stiftsbibliothek Einsiedeln):
Punkt und Virgel.


NHD 1:
Berner Kochbuch 1749 (Druck):
Übergang Virgel > Komma, Punkt und Strichpunkt.


NHD 1:
Henriette Davidis: Praktisches Kochbuch. Bielefeld 1864 (Druck):
Komma und Punkt.

Das älteste Satzzeichen, das in deutschen Texten verwendet wird, ist der Punkt (.). Ein hakenförmiges Zeichen zur Kennzeichnung von Fragen erscheint bereits im ahd. Fränkischen Taufgelöbnis. Daneben erscheint ab 1200 die Virgel (/), aus der sich im 18. Jahrhundert eine Kleinform, das Komma (,) entwickelt. Über die Regeln, nach denen diese Zeichen gesetzt wurden, ist die Forschung geteilter Meinung: Die frühe Phase ist demnach durch ein rhythmisch-intonatorisches Prinzip gekennzeichnet. Dies bedeutet, dass Zeichen v. a. gesetzt wurden, um Sprechpausen zu markieren. Andere sprechen bereits von einem frühen syntaktischen Prinzip. Prinzipiell lässt sich diese Frage heute noch nicht beantworten, zumal sich die beiden Prinzipien auch in der modernen Zeichensetzung überlagern. Sicher ist, dass sich die rein syntaktisch-grammatische Zeichensetzung erst im 20. Jahrhundert durchsetzt.
Die anderen Zeichen bzw. deren moderne Funktion entwickeln sich ab dem 16. Jahrhundert: der Doppelpunkt (:) zur Kennzeichnung der direkten Rede, das Fragezeichen (?), das Ausrufezeichen (!), die Klammern () sowie der Strichpunkt (;).